SPÖ-Stadtchef Ludwig: "Gewohnter Lebensstandard ist in Gefahr"
Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) spricht mit dem KURIER über die Corona-Zeit und auch über den Lobautunnel – die Hoffnung auf dessen Realisierung hat er noch nicht aufgegeben.
KURIER: Wien war während der Corona-Zeit für seinen strengen Kurs bekannt. Wie besorgt blicken Sie auf den nahenden Herbst?
Michael Ludwig: Es war ein konsequenter Kurs. Einer, der das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung in den Mittelpunkt gerückt hat. Wir beobachten die aktuelle Situation sehr genau, etwa wie sich neue Mutationen entwickeln. Wir kontrollieren das über das Abwasser und sind auch mit Expertinnen und Experten im laufenden Kontakt. Und wir sind vorbereitet.
Das Testsystem „Alles gurgelt“ wurde vom Rechnungshof wegen der hohen Kosten kritisiert. War es das wert?
Ja, das war es. Und es war großartig, dass es uns gelungen ist. Corona war vor allem ein medizinisches Problem, aber eben auch ein gesellschaftspolitisches. Durch die Tests konnten wir soziale Kontakte aufrechterhalten.
Welche Lehren haben Sie aus der Pandemiezeit gezogen?
Ich sage immer, dass sich in Krisenzeiten nicht nur der Charakter eines Menschen, sondern auch der einer Gesellschaft zeigt. Man hat Menschen erlebt, die auf Ärzte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Spitälern aus ideologischen Gründen Druck ausgeübt haben. Ich war emotional sehr betroffen, wenn man gesehen hat, wie viel menschliches Leid diese Krise gebracht hat, aber auch wie viel positive Stimmung und Solidarität.
Wir beurteilen Sie rückwirkend den Charakter der Gesellschaft? Schlägt das Pendel zugunsten der Nächstenliebe aus oder in Richtung jener Menschen, die andere unter Druck setzen?
Es hat natürlich politische Gruppierungen gegeben, die eine solche Krisensituation ausgenutzt haben, um eine Spaltung der Gesellschaft herbeizuführen. Ich bin auf der Seite jener, die gesagt haben: Was kann ich tun, um andere Menschen zu unterstützen? Und das waren sehr viele. Es hat viel Zusammenhalt gegeben. Das ist ein positiver Ansatz für die Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Das Gesundheitssystem ist nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen des Personalmangels belastet. Wie kann man dieses Problem in den Griff kriegen?
Das hat vor allem mit der demografischen Entwicklung zu tun. In meinem Jahrgang 1961 gab es ungefähr 123.000 Geburten in Österreich. 30 Jahre später waren es 95.000 weniger. Wir waren in der Schule schon immer zu viele, wir waren 40 Kinder in der Klasse. Jetzt kommen schwächere Jahrgänge nach. Insofern wird man bei manchen Berufen besondere Anstrengungen unternehmen müssen.
Und welche konkret?
In Wien haben wir die Ausbildungsplätze für Pflegeberufe mehr als verdoppelt. Wir haben einen Zubau an einer Fachhochschule finanziert und bilden dort 4.500 Personen in verschiedensten Pflegeberufen aus. Erfreulicherweise mit großem Zuspruch, weil wir in Wien begonnen haben, die Ausbildungszeit mit einem Einkommen aufzubessern. Das hat nun auch der Bund übernommen.
Neben Ärzten und Pflegern fehlen auch Lehrer, Polizisten und generell Fachkräfte. Muss man als Stadt umdenken, um auch in der Zukunft das Leben führen zu können, wie wir es kennen?
Man muss nachjustieren. Ich habe vor wenigen Tagen eine Lehrlings-Werkstätte der Wiener Linien eröffnet, wo wir Elektrotechniker und Mechatroniker ausbilden, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Es ist wichtig, dass man sich auf diese neue Situation in der Arbeitswelt vorbereitet und dass man die Zusammenarbeit der Stadt mit den Sozialpartnern weiterhin so intensiv lebt.
Apropos Sozialpartner: Wenn sich in den internen Streitigkeiten der Wiener ÖVP der Flügel von Ihrem Vertrauten, dem Wiener Wirtschaftskammerpräsidenten Walter Ruck, durchsetzt, streben Sie dann eine schwarz-rote Koalition an?
Wir haben in schwierigen Zeiten gezeigt, dass es über Parteigrenzen hinweg gut ist, zusammenzuarbeiten. Das ist gut für die Stadt, gut für die Menschen. Das ist auch unabhängig von einer politischen Koalition ganz wichtig.
Wenn sich im Bund bei den nächsten Wahlen keine linke Dreierkoalition mit Grünen und Neos ausgeht, wären Sie dann für eine Koalition mit der ÖVP?
In der SPÖ Wien haben wir immer eine Zusammenarbeit mit der FPÖ ausgeschlossen und es zeigt sich, dass das richtig ist. Weitere Ausschließungen würde ich auch der Bundespartei nicht empfehlen. Wichtig wäre, dass die Sozialdemokratie auch in einer Bundesregierung die Möglichkeit hat, den Staat zu gestalten.
Beim Finanzausgleich fordern Sie eine Neuverteilung zugunsten der Länder und Gemeinden. Warum?
Das ist eine Forderung, die alle Landeshauptleute über Bundesländer- und Parteigrenzen hinweg mittragen. Die Aufgaben haben sich sehr stark Richtung Länder und Gemeinden verlagert. Damit steigt auch der Finanzierungsbedarf. Gleichzeitig entgehen uns in den Ländern und Gemeinden Milliardenbeträge durch die Steuerreform des Bundes und die Abschaffung der kalten Progression. In Wien verlieren wir dadurch rund eine Milliarde Euro pro Jahr. Das ist in etwa so viel wie wir jedes Jahr jeweils für den öffentlichen Verkehr oder auch für den kostenfreien Kindergarten ausgeben.
"Leistungen für die Bevölkerung"
Inwiefern würde die Bevölkerung von einer Umverteilung profitieren?
Wir wollen nicht, wie das manchmal kolportiert wird, einfach nur mehr Geld, sondern wir wollen den Standard, den die Menschen derzeit gewohnt sind, aufrechterhalten – bei Gesundheit, Pflege, Bildung, Mobilität. Es geht um Leistungen für die Bevölkerung. Wenn der Bund dem nicht nachkommt, ist dieser hohe Standard gefährdet. Ich habe deshalb auch eine Verfassungsklage in den Raum gestellt.
Sie haben sich dafür ausgesprochen, dass man als Ersatz für die Landesrundfunkabgabe eine neue Gebühr einhebt. Ist das angesichts der Teuerungen das richtige Signal an die Bevölkerung?
Das ist keine neue Gebühr, sondern entspricht der Landesabgabe, so wie sie jetzt ist. In Wien haben wir mit diesen Mitteln die Sanierung der Votivkirche finanziert oder auch den Erhalt des jüdischen Friedhofs. Es ist ein Beitrag für kulturelle Einrichtungen, die erfreulicherweise sehr oft in Sendungen des ORF gezeigt werden.
Christoph Wiederkehr hat sich schon gegen diese Gebühr ausgesprochen. Wie wollen Sie ihn überzeugen?
Immer, wenn man Einnahmen streicht, sollte man gleichzeitig auch sagen können, wo man dann Leistungen reduziert oder andere Einnahmen lukriert. Ich bin dafür, dass man transparent ist und dass man auch Wirtschaftskompetenz an den Tag legt. Wenn man als Politiker verantwortungsvoll handelt, muss man auch für wirtschaftliche Stabilität sorgen.
Sprechen Sie Ihrem Koalitionspartner die Wirtschaftskompetenz ab?
Nein, ich kann nur von mir reden. Ich habe für mich immer in Anspruch genommen, dass soziale Gerechtigkeit das Wichtigste ist. Es ist aber auch ein primäres Anliegen der Sozialdemokratie, zu zeigen, dass wir wirtschaftlich arbeiten können, dass wir stabile Verhältnisse haben. Da unterscheiden wir uns auch von anderen Städten.
Von Klimaschützern wird die Wiener SPÖ gerne als Betonierer-Partei dargestellt, die zu wenig für Grünraum in der Stadt sorgt. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Er geht ins Leere. Erst letztes Jahr wurden wir als Green City ausgezeichnet – als eine der Städte mit dem höchsten Anteil an Grünraum weltweit. Wir haben sogar den Grünflächenanteil von 50 auf 53 Prozent ausgebaut.
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Der Bau des Lobautunnels liegt seit Monaten auf Eis. Glauben Sie selbst noch an die Realisierung?
Nachdem dieses Projekt geprüft worden ist, wie kein anderes Projekt in Österreich und es auch im Parlament beschlossen wurde, gibt es eigentlich keine Gründe, warum eine Bundesregierung dieses Projekt weiter behindern sollte.
Unter anderem beim Lobautunnel sind Sie anderer Meinung als Bundesparteichef Andreas Babler. Sie betonen trotzdem immer wieder die Loyalität zum Bund. Was sind die roten Linien, bei denen sich diese Loyalität nicht mehr ausgeht?
Wir sind eine Landesorganisation, die immer loyal zur Bundespartei steht. Das heißt nicht, dass man nicht in Einzelfragen anderer Meinung sein kann. Prinzipiell stellen wir die strategischen Ausrichtungen der Bundespartei aber nicht infrage.
Gibt es Momente, etwa bei der Marxismus-Debatte, an dem Sie an dem Bundesparteivorsitzenden zweifeln?
Die Marxismus-Debatte war eine ganz stark philosophische. Ich sehe da keine Notwendigkeit, das zu diskutieren.
Rechtspopulisten sind EU-weit auf dem Vormarsch. Was muss die SPÖ tun, um die Bevölkerung von der eigenen Arbeit zu überzeugen?
Man sollte stark und vehement dafür werben, dass es wichtig ist, sich für alle Teile der Gesellschaft einzusetzen.
Wegen des gleichen Vornamens und des gleichen Titels passiert gelegentlich, dass sich der Name Ihres Amtsvorgängers, Dr. Michael Häupl, einschleicht, wenn es eigentlich um Sie geht. Zuletzt nach Ihrer Rede nach dem 1. Mai. Ärgert Sie das ?
Es freut mich und ist auch eine gewisse Auszeichnung meiner Arbeit.
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