Rokko's Adventures: Der Reporter von Glitzer und Grind
Er porträtiert Menschen, die sich selbst Löcher in den Schädel bohren, katholische Exorzisten, menschliche Kanonenkugeln oder Kinder, die von Tieren aufgezogen wurden.
So beschreibt Rokko das, was er tut, selbst. Andere nennen ihn den rasenden Reporter des Wiener Untergrunds. Denn Rokko geht dahin, wo es schräg wird, manchmal auch ein bisschen grauslich, in jedem Fall aber bunt und unkonventionell.
Die Texte, die er über seine Erlebnisse und Gespräche verfasst hat, hat er seit 2007 in 20 „Heftln“ mit dem passenden Titel „Rokko’s Adventures“ herausgebracht. Er sagt: „Das als Papiertiger getarnte Unding war immer wieder Richtung Proleten-Fluxus und tausendjährigem Überraschungsei ausgelegt.“
Es geht um die Idee
Übersetzt heißt das so etwas wie: Es geht nicht unbedingt um das Endprodukt, es geht um die Idee. Und wenn Rokko das Papier zu fad wurde, dann brachte er eben sogenannte Sondernummern heraus. Statt eines Magazins gab es dann eingelegte Grauslichkeiten, Schnaps oder Foto-Disketten.
Aus alledem – also den Texten, Fotos und Beschreibungen der Sondernummern – hat Rokko jetzt ein Buch gemacht oder, wie er es nennt, „einen kleinen Rundumschlag“. Erschienen ist dieser im neu gegründeten Wiener Verlag Glitzer & Grind. Und ja, dieser Name ist Programm.
Zu Besuch in Schlaraffia
Die Leser können den Reporter zu allen möglichen und unmöglichen Orten und Personen begleiten. Er besucht etwa die Schlaraffia, einen Herrenklub, von dem nicht einmal die Mitglieder selbst wissen, wie man ihn am besten definieren soll.
Jedenfalls geht es dort um Freundschaft, Kunst und Humor. Die Mitglieder – weltweit, erklärt Rokko, gibt es 11.000 Schlaraffen – haben eine eigene Zeitrechnung, begrüßt sich mit dem fröhlichen Ausruf „Lulu“, halten Vorträge, machen Musik oder duellieren sich mit Wortwitz und Schlagfertigkeit.
Von Gott und Fresssucht
Dann wieder spürt Rokko mitten in Wien einen Exorzisten auf, den er über Himmel, Hölle und alles dazwischen ausfragt. Er erfährt dabei von einer Dame, die vier Kilo Heu ausgespuckt haben soll, oder, dass der Teufel nun einmal wirklich keinen Humor hat.
Von dem Treffen mit Schauspieler, Aktionskünstler und Schriftsteller Hermes Phettberg erzählt Rokko, dass dieser oft weinen muss, „weil es keinen Gott gibt“. Die beiden unterhalten sich über Fresssucht und wie er, Phettberg, schon dreimal von 170 auf 70 Kilo abgemagert ist – „und wieder retour“.
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Das alles ist so wild, wie es klingt, und riecht auf den ersten Blick ein bisschen nach Sozialvoyeurismus. Das ist aber nicht, worum es geht. Denn Rokko bewertet nicht, er beschreibt, er fragt, gibt wieder – und vor allem nimmt er seine Gesprächspartner immer ernst.
Auch ironisch ist er nur dort, wo es angebracht ist, wenn er etwa für eine Fotosession das Cover von „Underground“, einer Platte des US-Jazzstars Thelonious Monks auf österreichisch nachstellen lässt, Backhendl und Gamsbart inklusive.
Tot schöner als lebendig?
Wenn er hingegen einen Thanatopraktiker, der Verstorbene optisch rekonstuiert, an dessen Arbeitsplatz aufsucht, ist Rokko ernst und seine Beschreibungen fast technisch. Die Fragen, ob man eine Leiche eigentlich schöner machen darf, als sie zu Lebzeiten war, oder wie gut man nach so einem Arbeitstag im Leichenschauhaus schläft, die stellt er, naja, nur implizit.
Wichtig ist: Man weiß beim Umblättern nie, was auf der nächsten Seite passiert.
Rokko ist ein Meister seines Fachs und „Menschen, Tiere, Sensationen“ auch nicht sein erstes Buch. Dazu muss man wissen, dass Rokko bürgerlich Clemens Marschall heißt, studierter Musikwissenschafter ist und als freier Journalist für verschiedene österreichische Medien tätig ist.
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Von ihm erschienen sind etwa ein Fotobuch über die sterbende Wiener Beislkultur „Golden Days Before They End“, oder „EDITION PRIVAT – Claudias und Rudis Wien intim“, in dem er mit einem ehemaligen Porno-Produzenten-Pärchen deren Fotoalben durchgeht.
Vorbild ist ihm bei alledem Friedrich Achleitner. Warum? Weil der stets auf der Suche gewesen sei nach dem „G’fäuden“, sagt Rokko.
Achleitner habe als penibler Architekturkritiker und literarischer Neuerer über Jahrzehnte – nicht nur – Wien systematisch abgegrast und sei „unnachgiebig auf der Pirsch nach unbeschreibbaren, verweigernden Stätten“ gewesen, um dann doch jeden stinkenden Winkel präzise zu dokumentieren.
Würde er, Marschall alias Rokko, die Texte heute noch einmal so schreiben wie in den Heften, die heute großteils längst vergriffen sind? „Wahrscheinlich nicht“, sagt er. Aber die im Buch gesammelten Artikel stünden nun einmal als Zeichen ihrer Zeit, ähnlich wiederentdeckter Fototaschen, in die man schon lange keinen Blick mehr geworfen hat.
Werk als Mahnmal
Und Schluss mit Rokkos Abenteuern ist auch noch lange nicht. „Das vorliegende Werk ist kein Grabstein, eher Zwischenstopp und Mahnmal“, sagt er. „Die vor Jahren gestellt Frage, ob wir Teil der Lösung oder des Problems sind, kann ich mittlerweile mit einem klaren JA beantworten. “
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