Obdachlosigkeit: Wien springt für östliche Nachbarstaaten ein

In diesem Winter rechnen Experten mit einem Anstieg der Klienten in Obdachloseneinrichtungen.
Anteil der Österreicher in den Winterquartieren sinkt. In benachbarten Ländern wird restriktiv gegen Obdachlose vorgegangen.

Auf einen Rollator gestützt schiebt sich Piotr (60) in sein Zimmer, in dem vier Stockbetten und ein kleiner Tisch stehen. Piotr kann nach einer Erkrankung das Kurzzeit-Wohnen in der sogenannten Zweiten Gruft der Wiener Caritas in der Lacknergasse (Währing) in Anspruch nehmen. In diesem Bereich werden ausschließlich nicht-anspruchsberechtigte Obdachlose aufgenommen, meist kommen sie aus benachbarten EU-Ländern. Nicht-Anspruchsberechtigte sind nicht versichert und haben hier keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Aber sie finden in Wien Unterschlupf. In der Zweiten Gruft können sie für bis zu drei Monate nächtigen und werden betreut.

 

Obdachlosigkeit: Wien springt für östliche Nachbarstaaten ein

Schon Anfang Dezember 2015 berichtete der KURIER, dass sich die Zahl der Klienten dort seit dem Jahr 2012/13 mehr als verdoppelt hat. Auch für diesen Winter rechnen die Experten mit mehr Klienten. Grund dafür ist das seit 15. Oktober geltende verschärfte Gesetz gegen Obdachlose in Ungarn.

Diskriminierung

Zwar war dort auch bisher der Umgang mit Obdachlosen restriktiv, die Situation hat sich aber noch verschlechtert: Zwei Mal darf eine obdachlose Person auf der Straße angetroffen werden, dann folgen 90 Tage Haft. Viele seien schon geflüchtet, bevor das Gesetz in Ungarn in Kraft getreten ist. „Die Menschen wussten ganz genau, was das bedeutet“, sagt Martin Strecha-Derkics, stv. Leiter der Zweiten Gruft. „Seit dem Winter 2013/14 sind Ungarn die größte Gruppe unter den neuen Zuwanderern.“

 

Obdachlosigkeit: Wien springt für östliche Nachbarstaaten ein

Piotr (60) aus Polen ist nach einer Erkrankung nicht fit. In der Zweiten Gruft findet er Obdach und Zuwendung. 

Auch der Fonds Soziales Wien, unter dem die Winterhilfe für Obdachlose in Wien („Winterpaket“) zusammenläuft, rechnet mit einem Anstieg, wenngleich ein solcher auch immer mit der Witterung zusammenhänge.

Die Österreicher sind die am stärksten vertretene Nation im Winterpaket. Doch während deren Anteil sinkt, steigt jener der obdachlosen Klienten aus dem Ausland. 2012/13 lag der Anteil der Österreicher im Winterpaket bei 34 Prozent, vergangenen Winter waren es 23,4 Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil von nicht-österreichischen Obdachlosen im Vergleich zum Jahr davor um 7,7 Prozent auf 73,6 Prozent gestiegen (zu den restlichen 3 Prozent gab es keine Angabe zur Nationalität, Anm.). Besonders stark war der Anstieg zuletzt von Menschen aus der Slowakei (siehe Grafik). „Das hat vor allem zwei Gründe: Mangelnde Unterstützungsangebote vor Ort und Diskriminierung von Roma und Sinti“, sagt die Leiterin der Zweiten Gruft, Petra Schmidt.

Obdachlosigkeit: Wien springt für östliche Nachbarstaaten ein

Petra Schmidt leitet die Zweite Gruft in der Lacknergasse .

Flucht vor der Kälte

Tendenziell finden sich unter den Klienten des Winterpakets auch viele Rumänen – oft sei es eine „Flucht vor der Kälte“, sagt Schmidt. „Viele derer, die zu uns kommen, haben zwar Besitz, also etwa ein Haus, aber kein Geld, um es zu heizen.“

Sandu aus Rumänien ist 2012 nach Österreich gekommen, um hier zu arbeiten. In Rumänien, erzählt er, hatte er Hunger. Seinen Job hatte er verloren, seine Frau war gestorben. Für den Rest seiner Familie wollte er keine Belastung sein.

Obdachlosigkeit: Wien springt für östliche Nachbarstaaten ein

Sandu aus Rumänien ist nicht mehr gut zu Fuß

Laut Martin Strecha-Derkics übernimmt Wien hier seine „historische Brückenfunktion“ zwischen West und Ost. „Das offizielle Wien behirnt das.“ Menschen, die über den Winter nach Wien kommen, wüssten, dass sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. „Aber sie wissen, dass sie in Wien noch Mensch sein können.“ Auch für diesen Winter nahm sich die Stadt wieder vor, niemanden auf Wiens Straßen erfrieren zu lassen. Betten für 1690 Personen stehen in Notquartieren bereit. Tagsüber sind Wärmestuben geöffnet. „Wir wissen, dass wir die sozialen Probleme in der Slowakei und in Ungarn nicht lösen können. Aber jeder soll im Winter einen Schlafplatz haben“, sagt Caritas Wien-Generalsekretär Klaus Schwertner.

„Niemand ist da, weil ihm das Riesenrad so gut gefällt“, sagt Strecha-Derkics.

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Martin Strecha-Derkics:  Wien übernehme seine „historische Brückenfunktion“ zwischen West und Ost.

Obdachlosenquartier  und Zentrale des Kältetelefons 

Zweite Gruft. Die Zweite Gruft entstand 2009 als Folge der Studentenproteste „Uni brennt“ an der Uni Wien (Grund für die Aktion, im Zuge derer auch das Audimax besetzt wurde,  war die Einführung des Bologna-Systems, Anm.). Obdachlose hatten währenddessen    besetzte Räume als Schlafplatz genützt.

Das Tageszentrum (täglich von 8 bis 15 Uhr) bietet Platz für 100  wohnungslose Männer und Frauen, egal welcher Herkunft. Neben  Beratung und Betreuung bekommen alle Gäste täglich ein Frühstück. Für 50 Cent erhält man ein warmes Mittagessen.  Klienten können dort duschen. Eine ehrenamtliche Friseurin schneidet einmal pro Monat Haare. Dreimal wöchentlich findet eine Kleiderausgabe statt.

Neben dem Tageszentrum befindet sich am Standort in der Lacknergasse auch eine Notschlafstelle  für obdachlose Frauen. Von November bis April werden in der Zweiten Gruft  auch 18 Notschlafplätze im Zuge des Winterpakets geschaffen.  Außerdem befindet sich dort  das Medikamentenlager des Louisebus (Medizinbus der Caritas) und die Zentrale des Kältetelefons ( 01/480 45 53).   
Bei der Hotline können von November bis Ende April Schlafplätze von Obdachlosen gemeldet werden. Die Caritas geht den Hinweisen nach und bietet  Hilfe an. 

Caritas-Spendenkonto: IBAN: AT16 3100 0004 0405 0050. Kennwort: Zweite Gruft.  

 

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