Mutter der missbrauchten 12-Jährigen: "Ich empfinde puren Hass"

Die Familie hat dem Bezirk Favoriten den Rücken gekehrt. „Wir mussten dort weg“, sagt Martina (Name geändert, Anm.), die Mutter der 12-Jährigen
Es ist ein klirrend kalter Vormittag. Der Wind pfeift durch die Gassen. Martina (Name geändert, Anm.) hat die Hände in die Taschen ihres Wollmantels gesteckt und blickt über den Motorikpark – eine asphaltierte Fläche mit Schaukeln und Trainingsgeräten, an denen an wärmeren Tagen gerne junge Burschen pumpen.
Noch vor wenigen Monaten war diese Gegend in Wien-Favoriten das Zuhause von Martina und ihren Kindern. Dann wurde die Geschichte ihrer Tochter Anna (Name geändert, Anm.) bekannt: Die damals 12-Jährige soll von 30 Burschen sexuell missbraucht worden sein.
Am vergangenen Dienstag fand die zweite Gerichtsverhandlung in der Sache statt. Sie endete mit einem (rechtskräftigen) Freispruch.
Wie der Fall vor rund einem Jahr bekannt wurde: Eine 12-Jährige soll im Jahr 2023 von 30 Burschen sexuell missbraucht worden sein. 17 der 30 Burschen wurden ausgeforscht. Sie alle haben Migrationshintergrund. Ans Tageslicht kommt das alles erst, als einer der Burschen Annas späteren Freund anspricht, ob er wirklich mit der „Schlampe“ zusammen sei.
Stück für Stück ans Tageslicht: Was sich im Lauf mehrerer Monate abgespielt haben soll, kommt Stück für Stück ans Tageslicht. Die Jugendlichen sollen das Mädchen in einer Parkgarage, in Stiegenhäusern und sogar in einem eigens angemieteten Hotelzimmer missbraucht haben. Tatort ist Wien-Favoriten.
Die Polizei schlägt zu: Anfang März schließlich stehen 75 Polizisten zeitgleich vor den Türen der Beschuldigten. Einige Beschuldigte verweigern die Aussage, einige bestreiten die Vorwürfe. Einer bricht die Befragung ab: „Ich habe keinen Bock mehr, hier zu sein.“ Alle befinden sich danach auf freiem Fuß. Für Annas Anwalt Sascha Flatz völlig unverständlich.
Die Handys der Burschen werden untersucht: Die Ermittler finden darauf auch Videos. Zu sehen sind unter anderem andere blutjunge Mädchen, an denen sexuelle Handlungen vorgenommen werden, obwohl sie deutlich „Nein!“ sagen. Wer diese Mädchen sind, ist bis heute unbekannt.
Auch Anna sagte „Nein“: Zwei Beschuldigte, einer 16 Jahre alt, der andere 17, mussten sich deshalb bereits vor Gericht wegen Vergewaltigung verantworten. Beide wurden von den Vorwürfen rechtskräftig freigesprochen. Ein Urteil, das auch international für Aufregung sorgte: US-Milliardär Elon Musk kommentierte den Fall auf X mit den Worten „Das ist verrückt“.
Doch ein ganz massiver Vorfall wurde noch nicht gerichtlich behandelt: Anna soll in ein Hotelzimmer gelockt worden sein, wo sie 13 Jugendliche umzingelten. Anna wurde weder bedroht noch geschlagen. Aber die Burschen fassten sie an. „Ich konnte nicht einfach weggehen“, schilderte das Mädchen später bei der Polizei.
Weitere Anklagen gibt es aktuell nicht.
KURIER: Sie waren bei beiden Prozessen vor Ort, haben zugehört. Zwei Mal wurden die Beschuldigten freigesprochen. Wie geht es Ihnen da als Mutter?
Martina: Ich habe versucht, gefasst und ruhig zu bleiben, egal was passiert. Auch als eine Art Selbstschutz. Aber jetzt ist es schlimmer geworden. Ich muss ständig an die 100 Euro denken.
Sie sprechen von den 100 Euro, die der Angeklagte beim Prozess Ihrem Anwalt als Schmerzengeld auf den Tisch gelegt hat.
Als hätte er meine Tochter für ihre Dienste bezahlt. Ich habe meinen Augen nicht getraut. Und dann auch noch die Begründung der Richterin, dass man sich nach einem „Nein“ oft doch durch Zärtlichkeiten überreden lässt ... das waren keine Zärtlichkeiten!
Warum tun Sie sich das an?
Ich will diesen Personen in die Augen schauen. Und ich will ein Zeichen für meine Tochter setzen.
Was empfinden Sie, wenn Sie die Burschen sehen?
Puren Hass. Pure Wut. Die sitzen ganz unschuldig und kleinlaut da. Die bringen plötzlich kein Wort heraus – und sind trotzdem zu so etwas fähig.
Auch wenn strafrechtlich bisher nichts rauskam – hat es jemals irgendeine Entschuldigung gegeben? Von einem der Burschen? Von den Eltern?
Nein, gar nichts. Ich habe die Aussage des Vaters des letzten Angeklagten bei der Polizei gelesen. Dort hat er nur gesagt, dass seine Tochter das nicht dürfte. Noch mehr Hohn geht nicht.
Wie geht Ihre Tochter mit den Freisprüchen um?
Es ist sehr schwer, das Gespräch darüber zu führen, sie kann nicht darüber reden. Nach dem ersten Freispruch war sie sehr emotional. Wir haben ihr gesagt, dass das nicht bedeutet, dass wir ihr nicht glauben. Jetzt, beim zweiten Freispruch, sind ihre Augen sofort glasig geworden. Sie ist erstarrt.
Ich habe ihr gesagt, dass ganz Österreich schockiert ist und hinter ihr steht, die meisten Leute, die unter Artikeln posten, stehen auf ihrer Seite. 99 Prozent der Reaktionen sind positiv.
Sie lesen die Postings?
Ja. Am Anfang waren da auch viele dabei, die mich angegriffen haben. Das war hart. Mir ist vorgeworfen worden, warum ich nichts bemerkt habe. Dabei habe ich es ja bemerkt.
Wie hat sich das geäußert?
Meine Tochter ist plötzlich sehr ruhig geworden. Ihr Wesen hat sich verändert. Sie ist heimgekommen und sofort in ihrem Zimmer verschwunden. Und ihr Blick war so leer.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe mit ihr gesprochen, ich habe ja gemerkt, dass sie etwas belastet. Aber sie wollte es nicht sagen. Ich habe mit Psychologen und Sozialarbeitern gesprochen. Keiner hat mir geglaubt, da kamen nur Floskeln, das wäre die Pubertät.
Sie hat auch in der Schule gefehlt.
Ja! Das habe ich erst sehr viel später erfahren. Niemand hat mich darüber informiert. Und nachts hat sie sich aus ihrem Zimmer geschlichen und war weg. Da wurde sie von den Burschen rausgelockt.
Sie sind mit Ihrer Familie aus Favoriten weggezogen.
Ja, wir mussten dort weg. Und zwar schnell. Als die Übergriffe bekannt geworden sind, ist das alles riesig geworden. Wir leben jetzt in einem anderen Teil der Stadt. Aber der Umzug war schwierig. Allein, auf die Schnelle eine passende Wohnung zu finden! Und dann konnten wir auch etliche Möbel nicht mitnehmen.
Das war eine große, finanzielle Belastung. Aber natürlich auch eine psychische. In Favoriten hatten wir unseren Lebensmittelpunkt. Den mussten wir aufgeben. Ich schaffe es noch nicht, mich in der neuen Umgebung wohlzufühlen. Aber die Kinder haben sich ganz gut eingelebt.
Wie geht es Ihrer Tochter heute?
Sie leidet unter Panikattacken, sie zieht sich zurück. Wir versuchen alles, sie wieder aufzubauen. Ich bin so stolz auf sie, dass sie so stark war und bei der Polizei ausgesagt hat, was ihr passiert ist. Es gibt ja auch weitere Opfer, das wissen wir von den Videos, die gefunden worden sind.
Aber nach so einem Urteil wird sich kein Mädchen trauen, Anzeige zu erstatten. Das bringt ja nichts.
Laut einem psychiatrischen Gutachten, das hat auch der Verteidiger beim vergangenen Prozess mehrmals betont, trug Ihre Tochter keine Schäden davon.
Es ist einfach nur ein Wahnsinn. Natürlich leidet sie, hat eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Gutachterin hat meine Tochter mit den Worten verabschiedet: Schau, dass du nicht mehr in solche Kreise gerätst. Das war’s. Wir haben ein Privatgutachten erstellen lassen. Und da geht ganz klar hervor, dass sie nach den sexuellen Übergriffen an einer Belastungsstörung leidet. Niemand kann uns sagen, ob sie jemals ein normales Leben führen wird können.
Wie geht es Ihnen?
Ich bin im Überlebensmodus.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, ...
... dann wäre das Ruhe. Das ständige Kämpfen macht so unendlich müde.
Annas Anwalt Sascha Flatz hat ein Spendenkonto für das Mädchen eingerichtet: IBAN: AT04 3227 5000 0031 3692; Empfänger: Spende Anna
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