Mit Zungenschlag und Knochenarbeit: So war die Wiener Küche
Mit der Fleischgabel in der einen und dem Messer in der anderen Hand wuchtet Jürgen Gschwendtner eine grau gekochte Rinderzunge aus einem Suppentopf aufs Schneidebrett. Da liegen schon ein Markknochen und ein großes Stück fettiges Bauchfleisch vom Rind. Er deutet darauf und erhebt die Stimme: „Jetzt sind wir im 19. Jahrhundert!“
Gschwendtner ist Küchendirektor im Meissl & Schadn an der Wiener Ringstraße – benannt nach der einst legendären Institution am Neuen Markt – und Küchenmeister. Letzteres ist ihm wichtig. Er lässt in dem Lokal, die klassische Wiener Küche aufleben.
Das Rindfleisch liegt bei ihm in Suppengefäßen, die mit einem Wagen zum Tisch gebracht werden. So, wie man das einst in der ehemaligen k.u.k.-Hauptstadt nach allen Regeln der Kunst gemacht hat.
Der Küchenmeister mit dem Servierwagen beim Anrichten.
Noch ungekocht: Die Rindszunge - nicht jedermanns Geschmack.
Vorlage aus dem Kochbuch
Historische Servierwägen.
Historische: Früher aß man auch Kaviar oder Rote Rüben zum Rindfleisch.
Mahlzeit!
Mahlzeit!
Kredenzt wird es im Teller mit Kammern für Schnittlauchsauce, Apfelkren, Spinat, Semmelkren, Karotten und Erdäpfelrösti. Auch das war lege artis. „Dass damals auch rote Rüben, Kompotte oder Kaviar dazu serviert wurde, weiß heute kein Mensch mehr.“
Auf den Tisch kommt bei ihm nicht nur magerer Tafelspitz, sondern etwa auch das weißlich glänzende Bauchfleisch. Weil wie besagt die bekannte, aber bei Figurbewussten unbeliebte Weisheit? „Fett ist ein hervorragender Geschmacksträger.“ Und günstiger als das Lieblingsstück des Kaisers war es auch. „Das unentbehrlichste Fleisch einer Haushaltung ist und bleibt unter allen Verhältnissen das Rindfleisch“, hieß es etwa im Illustrierten Wiener Kochbuch aus 1885. Und wie Gschwendtner weiß, war der Preis gestützt. Und der Grund liegt wohl auch im Nährwert. „Das füllt“, sagt der Koch.
Unmengen Fleisch
Apropos füllt. Wussten Sie, was eine Oliosuppe ist? „Das hat die gehobene Gesellschaft bei Bällen zur Stärkung gegessen. Wirkt wie Red Bull.“ Kein Wunder, lässt man darin doch Kalb-, Lamm- und Schweinefleisch, Suppenhühner, Kalbsfüße, Gänse, Enten, Fasane, Rebhühner, Kapaune und Fasan mit Unmengen an Gemüse und Gewürzen köcheln. Das Wundermittel braut der Koch auch ab und zu – eine eigene Wissenschaft, diese Wiener Küche.
Wer mehr darüber wissen will, wendet sich an Ingrid Haslinger. Die Historikerin und Autorin (u. a. Die Wiener Küche. Kulturgeschichte und Rezepte. Mandelbaum) ist ein wandelndes Nachschlagewerk und berät Gschwendtner. „D’Chefin“, nennt er sie respektvoll.
Warum man heute eher nicht so wie dieser kocht, erklärt sie so: „Zwischen 1914 und 1950 gab es zwei Generationen, in denen das Wissen verloren ging.“ Der Niedergang der k.u.k.-Monarchie läutete auch das Ende der klassischen Wiener Küche ein. „Die Wirtschaftskrise ist eine entscheidende Veränderung. Man kann produktmäßig nicht mehr aus den Kronländern schöpfen.“ Das habe schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs angefangen. Hinzu kam, dass Lebensmittel zunehmend synthetisch hergestellt wurden. „Das war eigentlich für den Krieg gedacht, wie Maggi oder Fleischkonserven.“
Zuckerfrei
Nach den Kriegen war die Wiener Küche auch übel beleumundet: zu fett, zu schwer, zu ungesund. „Aber das stimmt nicht.“ Das sei alles eine Frage der Menge, darauf pocht sie mit Nachdruck. „Der Löffel bleibt nur dann stecken, wenn Notzeit ist. Man findet das in keinem Wiener Kochbuch.“ Auch in den Erdäpfelsalat gehörte kein Zucker. Aber: „Weil der Essig in der Zwischenkriegszeit so schlecht war, machten das die Leute“, sagt Gschwendtner.
Wobei, für die schlanke Linie werden die Klassiker nicht reichen. Alleine dass das Wiener Schnitzel im Schweinefett gebacken gehört (laut Gschwendtner nie in Butterschmalz), lassen die Kalorien in die Höhe schnalzen. Der Küchenmeister sieht das nicht tragisch – und das panierte Kalbfleisch als verträglich. Die Zauberformel: die Frische der Zutaten. „Wenn es wie ein Stein im Bauch liegt, kommt das vom ranzigen Fett.“
Wie dem auch sei: Ende der 1950er war die regionale Kost nicht trendig. Haslinger: „Die Menschen konnten sich einen Urlaub leisten.“ Mit dem Auto ging es in den Süden. Nach Italien und Jugoslawien. Und dort wurde lukullisch Unbekanntes serviert. Pizza, Pastagerichte und Cevapcici kommen auf die Teller.
Dass vieles verschwand, habe auch ethische Gründe: „Man isst kein Pferdefleisch und keinen Fischotter mehr – oder keine Bärenwurst“, sagt Haslinger. Und auch die aufkommenden Fertigprodukte, besonders aus Deutschland, hätten die tradierten Gerichte und Begriffe verdrängt. „Da heißt es Sahne und Kartoffeln. Das kann ich gar nicht hören.“Doch es gab immer wieder jene, die versuchten, entgegenzusteuern. Der Erste war der Fernsehkoch Franz Ruhm, der den Menschen auf der Couch die Wiener Küche wieder schmackhaft machen wollte und auch zeigte, wie man den Tisch deckt.
Hier ein Video aus dem Archiv des Bayerischen Rundfunks, das uns zur Verfügung gestellt wurde:
Ob er und auch spätere Erneuerer langfristig erfolgreich waren, darüber scheiden sich im Jahr 2020 bei Gastro-Experten die Geister. Aber wer einen Blick in die bekannten Rindfleisch- und Schnitzelpaläste wirft – oder dort einen Tisch sucht: So ganz aus der Welt ist sie wohl nicht, die Wiener Küche.
Ingrid Haslinger hat ein altes Rezept der Sachertorte entdeckt: In der 25. Auflage des Buches „Wiener Küche“ von Olga Hess und Adolf Fr. Hess (erschienen Ende der 1930er Jahre). Das Hotel Sacher legt jedoch Wert darauf, dass es sich nicht um das Original-Rezept handelt. Hier trotzdem ein Auszug.
Zutaten für den Teig:
12 dag Mehl
14 dag Butter
16 dag Zucker
18 dag erwärmte Schokolade
8 Dotter und Schnee von 10 Eierklaren
Für die Fülle:
5 dag Marillenmarmelade
Für die Glasur:
20 dag Zucker,
20 cl Wasser
20 dag Schokolade
Aus der Fußnote: „Das vorstehende Rezept wurde der Kochschule der Gastwirte von Frau Anna Sacher (...) in liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt.“
Zubereitung:
"Die Butter sehr flaumig abtreiben, sodann den Zucker, nachher die erwärmte Schokolade, ferner die Dotter einzeln und zum Schluß den Schnee mit dem gesiebten Mehl einrühren. Eine Tortenform mit Butter ausstreichen, mit Mehl stauben, die Masse einfüllen und 1 1/2 Stunden langsam backen: sodann auf ein Haarsieb stürzen und sofort noch einmal auf ein anderes Haarsieb stürzen, so daß die Torte wieder ebenso liegt wie in der Form. Sobald als sie erkaltet ist, wird sie oben glatt geschnitten, umgedreht, die ehemalige Bodenseite mir erweichter Marmeladen bestrichen und mit Schokoladenglasur überzogen.
Die Torte kann auch ein oder zweimal quer durchschnitten und mit Marmelade gefüllt werden. (...)
Schokoladenglasur. Zucker mit Wasser kochen lassen, bis er sich spinnt, sodann die Schokolade hingeben, abtreiben, bis die Masse glatt ist, aufkochen lassen, passieren, noch einmal aufkochen lassen und mit dem Kochlöffel an der Seite der Kasserolle so lang abrühren, bis die Glasur genügend dick ist, und damit die Torte überziehen."
Euphoriebremse:
Ganz euphorisch sollte man nicht sein, meinen die Autoren: „Wenn hiedurch auch das Geheimnis der weltberühmten Sachertorte scheinbar gelüftet erscheint, so wird doch kein Kenner (...) im Zweifel darüber sein, daß die Auswahl der richtigen Schokolade, der passendsten Mehlsorten, der vorzüglichsten Marmelade, des entsprechendsten Hitzegrades (...) von so wesentlichen Einfluß auf die Güte der Torte sind, daß eben nur das durch langjährige Erfahrungen eingeschulte Personal des Hauses Sacher diese Torte (...) in ihrer allerbesten Qualität zu bereiten imstande ist.“
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