55 Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung ist Ilsa Bareas Kultur- und Stadtgeschichte „Wien – Legende und Wirklichkeit“ nun auf Deutsch erschienen. In sechs Kapiteln beschreibt die Autorin darin die Stadt von ihren Anfängen bis zum Anfang vom Ende – die Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als Musiker, Maler, Architekten und Schriftsteller für neue Ideen in einer, wie Barea schreibt, „zerfallenden Gesellschaft“ kämpften.
Barea spürt Wien-Fantasien nach – Walzer- und Weinseligkeit und die „gute alte Kaiserzeit“ –, untersucht die sozialen Triebkräfte dahinter und beschreibt, wie die „erzählten und erdichteten Legenden die Wirklichkeit überlagern“. Wenn Helmut Qualtingers „Herr Karl“ das beste, wenngleich auch „etwas unfreundliche“ Porträt der Wiener sei, so biete Bareas Buch die überzeugendste Erklärung, wie sie so geworden sind, schrieb der Schriftsteller W. H. Auden im englischen Observer nach der Veröffentlichung des Buches 1966 in London, wo Barea damals lebte. Nach dem englischen Original erschien das bemerkenswerte Wien-Buch auch auf Dänisch und Spanisch. Die deutsche Übersetzung wollte die Autorin selbst übernehmen, es kam nicht mehr dazu.
Zum ersten Mal auf Deutsch herausgebracht hat das Buch nun der Verlag Edition Atelier. Die Übersetzer Julia Brandstätter und Gernot Trausmuth stießen bei Recherchen über die illegale Arbeiterbewegung und den Bürgerkrieg 1934 auf die außergewöhnliche Lebensgeschichte der Journalistin und Autorin Ilsa Barea. 1902 in Wien geboren, engagierte sich Barea in der Sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, berichtete vom Spanischen Bürgerkrieg, emigrierte nach Frankreich und schließlich nach England.
Wien aber, wohin sie wenige Jahre vor ihrem Tod zurückkehrte, blieb ihre „Heimatstadt“, der sie durchaus zwiespältig gegenüberstand.
Liebevoll, aber auch kritisch schreibt Barea über die großen und kleinen Momente, die Wien zu der Stadt gemacht haben, die sie ist. „Ich habe den Versuch unternommen, die Elemente, die zur Herausbildung der Wiener Gesellschaft und der Einstellungen beigetragen haben, sowie die Einflüsse, die die Architektur, die kulturelle Atmosphäre und die Sprache in meiner Geburtsstadt geformt haben, herauszuarbeiten.“
Grillparzer, Schubert, Johann Strauss, Hofmannsthal, Freud und natürlich Franz Joseph I. sind die Mitwirkenden dieser Wien-Chronik, die neben wirtschaftlichen Daten und sozialen Fakten gleichsam das „Knochengerüst“ jeder Epoche darstellen – umhüllt vom „Gewebe des kulturellen Lebens“. Grillparzer kommt wohl am öftesten vor – nicht zuletzt als „alter Grantler“ und damit gewissermaßen echter Wiener. Teil der Legende Wiens ist auch der bekanntermaßen Ornament-skeptische Architekt Adolf Loos, der anlässlich des 50. Jubiläums der Thronbesteigung von Franz Joseph I. über die Ringstraße wetterte. Man habe „italienische Herrenpaläste geplündert“, um „ihrer Majestät und der Plebs ein neues Wien vorzuzaubern“. Die Imitation sei typisch für diese „ Ära der Parvenüs“.
"Der alte Prochaska"
Gekonnt unterfüttert die Autorin Epochenmachendes mit Anekdotischem. Das Ende von Österreich werde gekommen sein, wenn der „alte Herr seine Augen schließt“, habe man in Wien um die Jahrhundertwende über den Kaiser gehört. Als dieser tatsächlich jener „alte Herr“ geworden war, nannte man ihn scherzhaft den „alten Prochaska“, ein sehr häufiger Name tschechischen Ursprungs.
Neben der bedeutenden und der flüchtigen Stadt-Geschichte beschreibt Barea ihre persönlichen Wien-Erinnerungen, aus denen die Sehnsucht nach der fernen Heimat spricht. Von den „Kalksteinklippen des südöstlichen Wienerwaldes“ bis zu den „allerersten Märzveilchen“ im Schönbrunner Schlosspark.
„Ich hoffe, es ist nicht meine unheilbare Liebe zu meiner Heimatstadt, die mich glauben lässt, dass Wien durch all das, was aus seiner Vergangenheit lebendig ist und auch in Zukunft noch lebendig bleiben wird, in der Welt von heute immer noch bedeutsam ist.“
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