Mit Caritas-Chef Schwertner in der Ukraine: "Wurde Ihr Glaube erschüttert?"
Wiens Caritas-Direktor Klaus Schwertner hat mit Chronik-Ressortleiterin Agnes Preusser die Ukraine besucht. Im Interview erzählt er von seinen Erfahrungen.
Wie geht es Ihnen nach einer Woche im Kriegsgebiet?
Klaus Schwertner: Das war mit Sicherheit die intensivste Reise seit 16 Jahren in der Caritas. Ich war seit Kriegsausbruch schon mehrmals in der Ukraine. Aber so viele Luftangriffe wie dieses Mal habe ich noch nie erlebt. Es ist buchstäblich so, dass es jede Nacht Drohnen und Raketen auf die Ukraine regnet. Das ist für die Betroffenen im besten Fall Psychoterror, im schlimmsten Fall bedeutet es Tote, Verletzte, Zerstörung, Leid und Trauer. Mir hat die Reise gezeigt, wie wichtig die Hilfe für die Betroffenen ist und dass sie unseren Besuch als ermutigendes Solidaritätszeichen erlebt haben, weil wir uns der Gefahr aussetzen, die Projekte zu besuchen.
Gibt es ein Erlebnis, das Ihnen besonders nahegegangen ist?
Wie ein Luftalarm losgegangen ist und wir in einer öffentlichen Schule in Lubny Zuflucht gesucht haben. Ich bin dort mit einigen Teenagern ins Gespräch gekommen, die so alt sind wie meine zwei Söhne. Sie müssen oft stundenlang in dem Bunker ausharren und werden dort sogar unterrichtet, wollen aber in erster Linie nur Kind sein. Sie reagierten neugierig auf unsere Anwesenheit und wollten Selfies mit mir machen. Es war unglaublich beeindruckend, zu erleben, wie resilient und stark diese Jugendlichen sind. Ich habe sie gefragt, was sie später einmal machen wollen. Es hat zum ersten Mal kein einziger Schüler gesagt, dass er zum Militär will. Und das ist eine Veränderung. Das zeigt mir, wie schlimm mittlerweile die Folgen dieses Krieges sind, weil alle schon Familienmitglieder, Väter, Brüder, Söhne verloren haben oder Angst haben, dass das unmittelbar bevorsteht.
Was macht die Angst vor der Front mit Ihnen als Mann und als Vater von Söhnen?
Einer der Momente, der mich sehr demütig werden ließ, war jener, des Grenzübertritts beim Ausreisen aus der Ukraine nach Polen. Da habe ich sehr bewusst daran gedacht, was es bedeutet, diesen österreichischen Pass in Händen zu halten. Nämlich die Freiheit, als Mann im wehrfähigen Alter in meine Heimat ausreisen zu können. Ich glaube, wir vergessen leider oft, dass wir bei der Geburtenlotterie den Dreifachjackpot geknackt haben. Wir alle, die wir in Österreich geboren sind. Daraus ergibt sich aber auch eine Verantwortung, seinen demokratischen Pflichten nachzukommen und über Grenzen hinweg in der Nachbarschaftshilfe tätig zu sein.
Auch die Österreicherinnen und Österreicher geraten zunehmend unter Druck. Wie erklären Sie, dass man jetzt im Ausland hilft?
Was viele nicht wissen, der überwiegende Anteil unserer Caritashilfe passiert hier in Österreich. Das reicht von Unterstützung für Schwangere, kostenloser Lernhilfe, 71 Sozialberatungsstellen, wo wir Menschen unterstützen, die Probleme vor allem rund ums Wohnen haben, bis hin zur Obdachlosenarbeit oder Pflege von älteren Menschen. Gleichzeitig ist es wichtig, zu erkennen, dass mitten in Europa ein Krieg wütet und Österreich Teil eines starken und solidarischen Europas sein muss, und wir deshalb nicht auf die großen humanitären Krisen vergessen dürfen: in Nahost und im Sudan.
Man kennt die Bilder von Kiew, wo auch gefeiert wird. Ist das Leben dort noch normal?
Natürlich muss das Leben irgendwie weitergehen. Allerdings sind mehr als 10 Millionen Menschen ins Ausland geflohen bzw Binnenvertriebene. 80 Prozent der Wärmekraftwerke sind zerstört oder massiv beschädigt. Die Ukrainer müssen oft sechs bis acht Stunden ohne Strom, ohne Wasser, ohne funktionierende Toilette, ohne Heizung leben. Das kann niemals normal sein. Jeden Moment kann der Luftalarm losgehen und die Menschen müssen sich in Schutzbunker flüchten. Gerade alte Menschen können das vielfach nicht, da sie nicht gut zu Fuß sind. Sie sind teilweise in ihren Wohnungen gefangen. Was es bedeuten muss, dieser Angst ausgesetzt zu sein und sich nicht einmal selbst in Schutz bringen zu können, das übersteigt meine Vorstellungskraft.
Die Caritas ist eine katholische Organisation. Sie sind ein gläubiger Mensch. Wie sehr erschüttert es den Glauben, wenn man mit eigenen Augen den Krieg sieht?
Ich muss zugeben, dass man angesichts der enormen Auswirkungen zu hadern beginnt und sich fragt: Wie darf das sein? Aber mich entsetzt mehr, dass manche Despoten, vor allem alte Männer, mitansehen und mitverursachen, dass Millionen Menschen sterben oder flüchten müssen, dass über Millionen Menschen unglaubliches Leid gebracht wird. Glauben heißt für mich auch vertrauen – an das Gute und darauf, dass letztlich Liebe stärker ist als Hass und Frieden stärker ist als Krieg.
Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung?
Ich habe großes Verständnis dafür, dass der Schuldenberg-Abbau angegangen wird. Das ist auch für einen funktionierenden Sozialstaat wichtig. Gleichzeitig ist mein dringender Appell, dass es gerade die Ärmsten in einer Gesellschaft sind, die dabei nicht abstürzen dürfen. Das heißt konkret kein Sparpaket auf dem Rücken der Ärmsten, von Alleinerziehenden, kinderreichen Familien, Mindestpensionisten. Die haben schlicht kein Loch mehr im Gürtel, um diesen enger zu schnallen.
„Wir vergessen leider oft, dass wir bei der Geburtenlotterie den Dreifachjackpot geknackt haben“
Arme und kinderreiche Familien werden oft mit Migration in Verbindung gebracht. Können Sie diese Ressentiments verstehen?
Wir erleben leider eine Politik, die sich nicht den großen Zukunftsfragen stellt, sondern oft Stimmung macht und Ängste schürt. Trotzdem in aller Klarheit: Beim Thema Integration gibt es massivste Versäumnisse. Aber das ausschließlich den Betroffenen umzuhängen, ist falsch. Acht Bundesländer von neun halten bis heute die Grundversorgungsquote nicht ein. Es wird nicht gehen, dass Wien allein die Integrationsaufgaben für ganz Österreich löst. Wir müssen über Sanktionen reden, wenn Bundesländer die Vereinbarungen nicht einhalten.
Was braucht es, um den Versäumnissen entgegenzuwirken?
Ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr, damit die Deutschkenntnisse entsprechend verbessert werden. Und zwar für alle Kinder, unabhängig davon, welchen Pass sie haben oder wo sie geboren sind. Eine verbesserte Kinderbetreuung für Null- bis Dreijährige. Dass es für Asylwerber mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit ab dem ersten Tag entsprechende Integrationsmaßnahmen wie Deutschkurse gibt. Aber auch eine integrationsfördernde, rechtskonforme Residenzpflicht darf kein Tabu sein. Integration kann nicht gelingen, wenn 80 bis 90 Prozent der anerkannten Geflüchteten sofort nach der Anerkennung in die Bundeshauptstadt gehen, so wie sich das vielleicht die anderen acht Bundesländer wünschen.
Was ist Ihr Wunsch für das kommende Jahr?
Zuallererst Frieden für möglichst alle Menschen. Und ich befürchte, dass die nächsten zwei, drei Jahre herausfordernd bleiben werden. Viele Menschen sind nach den multiplen Krisen müde. Die Wirtschaftsdaten sprechen auch dafür, dass es zumindest noch einige Zeit eine Rezession geben wird. Der zweite Wunsch ist daher, dass es gelingt, Menschen Mut und Zuversicht zu geben. Und da kommt der Politik eine sehr sensible und verantwortungsvolle Rolle zu.
Kann das gelingen?
Wenn ich in der Früh auf Social Media schaue, denke ich mir auch manchmal, alles ist schrecklich. Aber dann erinnere ich mich daran, was ich im Caritasalltag allein im Jahr 2024 erleben durfte. Die Zehntausenden Freiwilligen, die sich für andere einsetzen, die Tausenden Menschen, die in ganz Österreich beim Kältetelefon anrufen. Diese enorme Hilfsbereitschaft, wie wir sie während der Hochwasserkatastrophe in Niederösterreich erlebt haben. Unglaublich. Plötzlich war von einem Tag auf den anderen völlig egal, ob jemand geimpft ist oder nicht, wer welche Partei wählt, wer welchen Standpunkt in der Klimakrise hat. Ich wünsche mir für 2025, dass es diese Solidarität, diese Mitmenschlichkeit, diese Hilfsbereitschaft auch ohne Katastrophe gibt.
Sie glauben also noch an die Menschheit?
Ja, definitiv. Ich erinnere mich gut, dass der ehemalige niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll einmal gesagt hat: „Wir werden den Weg bewältigen, auch wenn er steiler wird, wenn wir zusammenstehen und dabei nicht auf die Ärmsten vergessen.“ Ich bin leider davon überzeugt, dass der Weg steiler wird. Es muss uns aber gelingen, zu erkennen, dass es uns nur allen gut gehen kann, wenn es auch unseren Nächsten gut geht und dass wir schon aus egoistischen Gründen füreinander da sein sollten.
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