Das dritte Weihnachten im Krieg: Die Ukraine zwischen Kälte und Angst
In Krisen braucht es Symbole. Und zu einem solchen kann auch ein einfacher Küchenschrank werden: Borodjanka, 2022, eine Rakete schlägt ein und richtet absolute Verwüstung an.
Einzig ein Küchenschrank hängt an dem spärlichen Rest einer Mauer eines zerbombten Hauses. Die Teller noch fein säuberlich eingeräumt, alle Speisen an ihrem angestammten Platz. Für die Ukrainer wird diese statische Unmöglichkeit zum Zeichen für ihre eigene Widerstandsfähigkeit. Ein Bild, mit dem Spruch „Stark wie ein Küchenschrank“ versehen, geht viral.
Auch diesen Winter, es ist das dritte Weihnachten seit der russischen Invasion im Februar 2022, erzählen die Ukrainerinnen und Ukrainer von diesem Küchenschrank.
Selbst wenn sie unter Tränen von Vertreibung und Tod berichten, entlockt man allen ein Lächeln, sobald die Sprache auf ihn kommt.
Dessen beschworene Widerstandsfähigkeit haben die Menschen bitternötig. Russland nutzt den Winter als Waffe, Angriffe auf die Energieinfrastruktur beinträchtigen die Stromversorgung. Das Geld für Reparaturen oder Sozialleistungen fehlt.
Angriffe auf Kinder
Hinzu kommen Attacken, die alle in ihren Grundfesten erschüttern – wie jener auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew diesen Juli. Eines der Häuser wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. „Früher habe ich mich immer sicher gefühlt, wenn ich hier arbeiten war“, sagt Daria zum KURIER, sie arbeitet in der Presseabteilung des Spitals., „Wer attackiert schon ein Kinderkrankenhaus?“.
An einen Zufall glaubt man hier nicht, sondern an ein Kriegsverbrechen.
Vollbetrieb im Spital
Die Rakete kam am Montag, um 10.45 Uhr. „Da, wo wir am meisten Kinder betreuen.“ Sterben musste an diesem Tag keines von ihnen, sie wurden rechtzeitig in den Bombenkeller gebracht.
Schwer kranke Kinder, die bei den medizinischen Geräten bleiben mussten, wurden in Gänge geschoben.
Daria hat Fotos und Videos von dem Tag des Angriffs auf ihrem Handy. Zu sehen sind blutverschmierte Ärztekittel, Rauch, Chaos.
Magere Kinder, die aufgrund ihrer Krebsbehandlung keine Haare mehr haben, werden durch die Trümmer getragen.
Und die Gefahr hält an. In der vergangenen Woche gab es jeden Tag Luftalarme, seit Februar 2022 wurden mehr als 50.000 davon gezählt.
Evakuierungen mehrmals täglich
Das Krankenhaus muss oft mehrmals täglich evakuiert werden. Im Gegensatz zum Sommer ist es nun aber klirrend kalt. „Im günstigsten Fall sind die Alarme Psychoterror“, sagt Wiens Caritas-Direktor Klaus Schwertner. „Im schlechtesten Fall bedeuten sie Tote, Verletzte und Leid.“
Im verbliebenen Gebäude des Krankenhauses wurden die zerbrochenen Fenster mit Spanplatten ersetzt. Lichterketten blinken grün, violett und blau – zwar angebracht auf mickrigen Bäumen, dennoch scheint die Verzierung eines auszudrücken: Wir halten weiter durch.
Die Gesichter des Krieges: Irina
Die 82-jährige Irina liegt bei Luftalarm im Bett und hat Angst. Um sich zu beruhigen, rezitiert sie Gedichte.
Die Gesichter des Krieges: Artem
Artem ist 12 Jahre alt und er lebt in einem Kinderheim. Sein Weihnachtwunsch: "Alle Kinder, die keine Mama haben, sollen die Liebe bekommen, die sie brauchen."
Die Gesichter des Krieges: Tanja
Tanja lebt ebenfalls im Kidnerheim. Die 15-Jährige muss mithelfen, die Kleinsten zu evakuieren, wenn der Luftalarm losgeht.
Die Gesichter des Krieges: Daria
Daria arbeitet in einem Kinderkrankenhaus. Bei dem Bombenangriff am 8. Juli war sie im Dienst.
Die Gesichter des Krieges: Irina
Irina ist aus Bachmut geflüchtet, ihr Zuhause ist komplett zerstört.Sie hält sich mit Landwirtschaft über Wasser.
Gestrichene Hilfen
„Wir sind hier exakt wie der unzerstörbare Küchenschrank“, sagt Tanja über ihre Arbeit im Fonds Aspern in Kiew, in dem derzeit zwölf elternlose Kinder (oder solche aus schwierigen Verhältnissen) rund um die Uhr betreut werden. „Wir müssen funktionieren, auch wenn es schwierig ist.“
Seit Anfang des Jahres wird, wie auch von anderen sozialen Einrichtungen, Miete eingehoben. „Das war ein Schock für uns.“
Früher sei auch die Heizung staatlich finanziert worden, jetzt muss man im Fonds Aspern selbst dafür aufkommen.
Hilfe im dritten Kriegswinter
Mit 15 Euro schenken Sie Kindern einen sicheren Raum zum Spielen, mit 20 Euro einer Familie Brennholz für eine Woche, mit 30 Euro ein Nothilfepaket
BIC: GIBAATWWXXX
IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560
Kennwort: Ukraine Soforthilfe
Spendenauftrag
Ein monatlicher Spendenauftrag ermöglicht langfristige Betreuung von Kindern in Schutzzentren. Infos:
www.caritas.at/caritas-helferin
Von der Caritas Wien und Österreich erhält das Sozialzentrum 150.000 Euro jährlich als Unterstützung. Geholfen wird damit Kindern wie dem 12-jährigen Artem.
Warum er im Kinderheim gelandet ist, will er nicht im Detail erzählen, sein Weihnachtswunsch spricht aber für sich: „Allen, die keine Mama haben, wünsche ich, dass sie die Liebe bekommen, die sie brauchen.“ Fast alle Kinder hier wollen mehrmals lange umarmt werden.
Die 15-jährige Tanja gehört zu den älteren Kindern im Heim, das jüngste ist zwei Jahre alt. Dass sie mithelfen muss, ist für sie eine Selbstverständlichkeit. „Ja, es kann schwierig sein, aber es ist meine Pflicht, mich um die Kleinen zu kümmern“.
Neben Kindern leiden besonders ältere Menschen unter dem Krieg.
Gefangen in der eigenen Wohnung
Irina ist 82 Jahre alt. Sie ist kaum mobil, kann die Wohnung fast nie verlassen, ist in ihren eigenen vier Wänden gefangen, wenn der Luftalarm kommt.
Dann liege sie in Kiew im Bett und fürchte um ihr Leben, erzählt sie, und rezitiere Gedichte, um sich zu beruhigen. Am Liebsten jene von Puschkin. „Es spielt keine Rolle, dass er Russe war. Mit seinen Worten verbinde ich gute Erinnerungen.“
Das Geld reicht, wie bei so vielen Pensionisten im kriegsgebeutelten Land, an allen Ecken und Enden nicht. „Es ist gerade so viel, dass ich nicht sterbe“.
Die Sozialarbeiterinnen, die zwei Mal pro Woche kommen, sind oft der einzige Kontakt. Viele ihrer Freunde sind bereits gestorben, andere körperlich in noch schlechterer Verfassung als sie. Telefonieren ist nicht immer möglich.
Das Geld für die Telefonkosten für den wichtigen Kontakt in die Außenwelt muss oft für die noch wichtigeren Medikamente ausgegeben werden.
Wenn sie mehr Geld hätte, würde sie zum Friseur gehen, sagt sie, sich die Nägel machen lassen, neue Kleidung kaufen. „Jede Frau will schön sein“. Im Zimmer hängt ein Bild von ihr als 22-Jährige. Eine Erinnerung an ihre Schönheit – und an bessere Zeiten.
Neubeginne in Poltawa
Irina heißt auch eine Frau, die aus ihrer Heimatstadt Bachmut geflüchtet ist, ihr altes Zuhause wurde komplett zerstört.
„Die Menschen hier sind unheimlich stark und resilient. Dennoch ist klar, dass sie auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.“
In Poltawa kann sie dank finanzieller Hilfe Gemüse und Obst anbauen. Inlandsgeflüchtete, laut UNHCR sind das 3,5 Millionen Menschen, werden oft in Häusern untergebracht, die von jenen, die ins Ausland gegangen sind, zurückgelassen wurden. „Immer wenn wir es fertig schön hergerichtet haben, haben die Besitzer das Haus verkauft “, erzählt Irina.
Seit sie vertrieben wurde, musste sie deshalb bereits weitere drei Mal ganz von vorne anfangen.
Humanitäre Hilfe notwendig
Ermüdung will sie sich nicht anmerken lassen, sondern zeigt vielmehr stolz ihr neues Gewächshaus. „Die Menschen hier sind unheimlich stark und resilient“, ist Schwertner beeindruckt. „Dennoch ist klar, dass sie auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.“
Der widerstandsfähige Küchenschrank ist mittlerweile in ein Museum in Kiew überstellt worden. Wenige Meter von seinem ursprünglichen Standort prangt nun ein Graffito von Banksy. Es zeigt David und Goliath, die miteinander ringen. David gewinnt.
Die Reise erfolgte auf Einladung der Caritas.
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