Jobabsage wegen Antidepressiva bei den Wiener Linien
Zwölf Jahre arbeitete eine 56-Jährige für die Rettung. Die Wiener Linien lehnten sie wegen ihrer Antidepressiva ab. Arbeiterkammer ortet Diskriminierung.
Nicht einmal zwei Minuten soll das Vorstellungsgespräch von Brigitte A. bei den Wiener Linien gedauert haben. Die 56-jährige Wienerin hatte sich im April als Buslenkerin beworben.
Am Bewerbungsbogen gab es auch die Möglichkeit, einen alternativen Berufswunsch bei den Wiener Linien anzugeben. Neben Buslenkerin kreuzte A. deswegen auch Stationsaufsicht, also Service-Mitarbeiterin an.
Personalnot bei Wiener Linien
"Ich habe gehört, dass die Wiener Linien händeringend nach Personal suchen. Da ich früher bei der Rettung Einsatzfahrzeuge gelenkt hab', dacht' ich mir, dass das jetzt gut passt", schildert die Wienerin.
Seit 2019 ist die 56-Jährige auf Jobsuche. "Umso mehr hab ich mich gefreut, dass ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden bin", sagt A. Während des Gesprächs, das von einer Ärztin geführt wurde, schwand ihre Vorfreude aber schnell.
Der Grund war die Reaktion der Medizinerin auf das Gesundheitsprotokoll, dass die 56-Jährige im Zuge des Bewerbungsverfahrens ausfüllen musste.
"Ich habe angegeben, dass ich seit fünf Jahren Antidepressiva nehme. Als die Ärztin die Notiz gesehen hat, hat sie mir das Protokoll mit den Worten 'Das ist mit den Wiener Linien nicht vereinbar' wieder in die Hand gedrückt", schildert die 56-Jährige.
Auf KURIER-Anfrage hieß es seitens der Wiener Linien, dass man beim Thema Sicherheit keine Kompromisse eingehe. "Genau aus diesem Grund wird bei der Auswahl von Mitarbeitern stets mit besonderer Sorgfalt vorgegangen", sagt eine Sprecherin.
Die Tätigkeit im Fahrdienst erfordere ein hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit und setze eine starke physische sowie psychische Verfassung voraus.
Ein Argument, das auch Brigitte A. durchaus nachvollziehen kann. "Das ich dann nicht Buslenkerin sein kann, versteh' ich ja noch irgendwie. Auch wenn psychische Krankheiten nach wie vor einen anderen Stellenwert haben als physische. Ich könnte genauso gut einen Schlaganfall bekommen oder Diabetiker etwa einen Schwindel-Anfall", sagt die 56-Jährige.
Mit Antidepressiva Autofahren?
Grundsätzlich ist es nicht verboten, während der Autofahrt Antidepressiva zu nehmen. Oft warnen Beipackzettel der Psychopharmaka vor ungewünschten Nebenwirkungen, nicht selten liest man hier auch von eingeschränkter Fahrtüchtigkeit.
Im Vorhinein könne man aber nie einschätzen, inwiefern sich welche Medikamente auf Patienten auswirken, sagt etwa Psychiaterin Sigrun Roßmanith. "Entscheidend ist vor allem die Einstellung und die Dauer, also wie lange Personen Antidepressiva in welcher Dosis nehmen", so Roßmanith.
In den ersten Tagen und Wochen rät sie ihren Patienten davon ab, ins Auto oder aufs Fahrrad zu steigen. "Man muss erst abwarten, wie sich die Antidepressiva auswirken und welche Nebenwirkungen auftreten."
"Viele verschweigen es"
Ist der Patient aber gut eingestellt und nehme die Medikamente - wie etwa Brigitte A. - über mehrere Jahre, sehe sie absolut kein Problem in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit. "Jemanden deshalb nicht einzustellen, finde ich überzogen", sagt Roßmanith.
Eine solche Vorgehensweise führe nur dazu, dass Personen sich nicht trauen, überhaupt öffentlich anzugeben, dass sie Antidepressiva nehmen. "Viele erwarten sich davon Nachteile und verschweigen es deshalb."
Brigitte A. hatte zwar überlegt, es für sich zu behalten. Dann entschied sie sich aber für Transparenz, was die Einnahme ihrer Antidepressiva betrifft.
Ein Rätsel bleibt für sie nach wie vor, warum sie nach dem Gespräch sofort weggeschickt wurde. "Man hat mich nicht einmal gefragt, warum ich die Antidepressiva nehme, wie ich eingestellt bin oder ob ich sie bald absetzen möchte", sagt A.
Zudem habe sie sich ja noch zusätzlich als Service-Mitarbeiterin beworben. Warum wurde sie auch hier abgelehnt?
"Die Tätigkeit der Service-Mitarbeiter umfasst bei Bedarf auch den Einsatz als U-Bahnfahrer – daher erfolgt nach einer gewissen Zeit die Erlangung der U-Bahnfahrberechtigung", sagt die Sprecherin der Wiener Linien.
Für die Tätigkeit im Fahrdienst sei eine ärztliche Einstellungsuntersuchung erforderlich. Dort obliege es Ärzten, die Diensttauglichkeit zu prüfen und festzustellen, ob Bewerber die physischen und psychischen Voraussetzungen erfüllen, heißt es weiter.
Laut Sozialversicherung wurden im Jahr 2022 mehr als 6,4 Millionen Packungen Antidepressiva verschrieben
Zum Vergleich: In den Corona-Jahren 2020 und 2021 wurden jeweils 6,5 Millionen Packung verschrieben, vor allem an Jugendliche
Auch international steigen die Zahlen: Acht bis zehn Prozent der Deutschen etwa nehmen nehmen im Schnitt Antidepressiva
Brigitte A. kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen. "Ich habe zwölf Jahre bei der Rettung gearbeitet und regelmäßig Einsatzfahrzeuge gelenkt, ich bin wirklich gut eingestellt." Vor allem in Hinblick auf den Personalmangel bei den Wiener Linien könne sie die Jobabsage nicht verstehen.
Das Unternehmen sucht seit Monaten 100 neue Bus- sowie Straßenbahnlenker - der KURIER berichtete bereits. "Für mich ist das ganz klar Diskriminierung", so die 56-Jährige.
Wo fängt Diskriminierung an?
Auch die Arbeiterkammer Wien hat sich auf KURIER-Anfrage mit dem Fall von Brigitte A. auseinandergesetzt. "Es ist denkbar, dass im vorliegenden Fall eine Diskriminierung auf Grund der bekannt gegebenen psychischen Erkrankung vorliegt, die nach Maßgabe des Behinderteneinstellungsgesetzes zu beurteilen und möglicherweise zu Schadenersatzansprüchen führen könnte", sagt Philipp Brokes, stellvertretender Abteilungsleiter für Sozialpolitik in der AK.
Die Feststellung eines Behinderungsgrades von über 50 Prozent sei dafür nicht erforderlich, der Diskriminierungsschutz greife auch schon davor. Wichtig sei aber die einzelfallbezogene Prüfung, wobei insbesondere auf die konkrete Tätigkeit Bedacht zu nehmen ist, für die die Bewerbung erfolgte, so der Experte.
"Es gibt durchaus Fälle, in denen betriebsinterne Vorschriften zwar an sich diskriminierend sind, im Rahmen der Prüfung jedoch auf Grund eines rechtmäßig und sachlich gerechtfertigten Ziels angemessen und erforderlich sind. Ob und inwieweit Rechtfertigungsgründe für eine solche Ungleichbehandlung vorliegen, kann nur im Rahmen einer persönlichen Rechtsberatung mit der Betroffenen erörtert werden", erklärt Brokes.
Diese will Brigitte A. aber nicht in Anspruch nehmen. "Für mich ist der Zug abgefahren. Wenn sie mich nicht wollen, dann ist das so. Dann renne ich aber auch niemandem hinterher", sagt die 56-Jährige. Mittlerweile hat sie einen Job in der Pflege gefunden.
Kommentare