Inklusion: Eine Schule mit einer Oberstufe ohne Ausgrenzung
Sie wird sich fix als Gärtnerin bewerben, eröffnet Laura am Beginn der Geschichte-Stunde der 7. Klasse B. Die 17-jährige Schülerin könnte sich aber auch vorstellen, "mit Kindern zu arbeiten“. Begleitlehrerin Irmi Mandl nickt: "Das wäre auch eine Option, die Laura ist ein Sonnenschein, sie kann auch gut mit anderen in der Klasse.“ Wer weiß das besser als die Inklusionspädagogin?
Irmi Mandl betreut in der 7B insgesamt drei Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Das ist insofern außergewöhnlich, als die Gesetzeslage in Österreich bis dato keinen inklusiven Unterricht für Schüler der Oberstufenklassen erlaubt. Im Gymnasium am Stadtrand von Wien, in der Maculangasse 2, und in einem Schulversuch in Salzburg ist das zumindest bis zur 7. Klasse möglich.
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Von Mandls Präsenz in der 7B, zwanzig Stunden pro Woche, profitieren auch alle anderen Schüler der Klasse. Zunächst jene drei Mitschüler von Laura, die in ihrer Familie Ukrainisch, Mazedonisch bzw. Persisch sprechen. Und wenn sonst wer den Ausführungen der Geschichtslehrerin nicht gleich folgen kann, dann ist sie auch sofort da. Hilft, bevor noch Nachhilfe benötigt wird.
Großraumlabor statt Frontalunterricht
Die informellen Gespräche zwischen den Schulbänken stören den Unterricht nicht. Im Gegenteil. Es ist gewohnte Praxis. Die Stimmung im Klassenzimmer erinnert mehr an ein Großraumlabor denn an sturen Frontalunterricht.
Ich liebe diese Schule, weil ich hier das erste Mal das Gefühl habe, dass Inklusion in der Schule funktioniert
Soziales Lernen
Lauras beste Freunde Anja, Olivia und Jonas fragen nach dem Ende der Stunde, ob sie ihr irgendwie helfen können. Sie betonen in dem auffallend schülerfreundlich gestalteten Pausenraum, dass sie in dieser Schule genauso gut auf die Zentralmatura vorbereitet werden wie in jedem anderen Gymnasium in Wien. Punkto soziales Lernen wären sie sogar klar im Vorteil.
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Diese Ansicht wird auch von der Direktorin des Evangelischen Realgymnasiums mit seinen rund 100 Lehrern und Lehrerinnen bestätigt. Für Elisabeth Kapfenberger steht fest: "Die Mitschüler lernen von unseren Inklusionsschülern viel über das Zusammenleben in einer Gemeinschaft.“ Es profitieren aber auch die Lehrkräfte: "Wir lernen von unseren I-Schülern – und das täglich. Weil sie uns deutlich machen, was auch andere brauchen.“
Die Diakonie der evangelischen Kirche feiert mit einer Reihe von Festveranstaltungen ihr 150-jähriges Bestehen. Damit ist sie die älteste Sozialorganisation in Österreich. Beim Geburtstagsempfang der Diakonie-Direktorin am 15. Februar ist die Wanderausstellung "Geschichte hat viele Gesichter“ erstmals zu sehen
10.300 Mitarbeiter der Diakonie begleiten, beraten und betreuen rund 410.000 Menschen in den Bereichen Alter und Pflege, Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien, Behinderungen und Inklusion, Flucht und Integration, Bildung, Armut, Einsamkeit, Nachbarschaft, Gesundheit, Rettungsdienst und außerdem Entwicklungszusammenarbeit und Katastrophenhilfe
551 Schüler besuchen das Evangelische Gymnasium, 92 haben Inklusionsbedarf. Ihnen zur Seite stehen zehn Lehrer und Lehrerinnen wie Irmi Mandl. In den meisten Fächern sitzen die Kids mit und ohne Förderbedarf nebeneinander. Mathematik, Spanisch und Englisch wird nicht gemeinsam unterrichtet.
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Laura hätte die Möglichkeit gehabt, in eine andere Schule zu wechseln. Das wollte sie aber nicht. Sie fühlt sich wohl in ihrer Umgebung: "Da bin ich gut aufgehoben.“ Ein starkes Argument dafür: "Meine Lehrerin, die Irmi.“
In der Schule wird gegärtnert
Auf einer Terrasse der Schule habe man im Sommer Gemüse und Kräuter angebaut, diese geerntet und verkocht. "Dabei hat Laura großes Interesse am Garteln gezeigt“, freut sich die Lehrerin.
Wir lernen von unseren I-Schülern – und das täglich. Weil sie uns deutlich machen, was auch andere brauchen
Dass ihre Schülerin eine Lehre mit Jobassistenz schaffen kann, davon ist Irmi Mandl überzeugt. Mit viel ehrlicher Wertschätzung verbringt auch sie die Schulpause. Als es wieder ruhiger wird, sagt sie zufrieden: "Ich liebe diese Schule, weil ich hier das erste Mal das Gefühl habe, dass Inklusion in der Schule funktioniert.“
Jeder wird akzeptiert, wie er ist
Dominik Alturban, der den Einsatz der zehn Inklusionspädagogen im Evangelischen Gymnasium koordiniert, freut sich über die klare Vorgabe des Schulträgers. Das ist die evangelische Diakonie, die heuer ihre Gründung vor 150 Jahren feiert und Gerechtigkeit punkto Bildung groß auf ihre Fahnen schreibt.
"Bei uns wird jeder so akzeptiert, wie er ist“, plaudert der Pädagoge aus der Schule. Wenn etwa ein Schüler mit Tourette-Syndrom oder einem Autismus-Spektrum mitten in der Stunde aufsteht und ein paar Dinge loswerden will, dann ist das für alle anderen kein Grund zur Panik. "Diese Haltung trägt das ganze Haus top-down mit, von der Schulleitung bis zu den Kollegen und eben auch den Schülern“, freut sich Alturban, der gerne hier Lehrer ist.
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