Fotoprojekt: So Vintage ist Wien
An die 1.000 Anzeigen scheinen auf, wenn man den Begriff „Mid-Century“ in die Suchzeile der Kleinanzeigenplattform Willhaben tippt. Angeboten werden zum Beispiel Cocktailsessel, String-Regale, Tütenlampen, Nierenspiegel und Esstische mit Resopalplatten – zu teils stolzen Preisen. Die Verkäufer wissen, dass Ware aus den 1950er- und 1960er-Jahren äußerst begehrt ist.
Dabei müsste man eigentlich gar nichts bezahlen, um die Ästhetik dieser beiden Dekaden um sich zu haben: „Was wir teuer kaufen, das haben wir auch im Stadtbild“, sagt Tom Koch. Und genau darauf will der Grafiker, der ein Faible für alte Dinge hat, nun mit einem Fotoprojekt aufmerksam machen.
Mid-Century Vienna heißt es – und es funktioniert so: Gemeinsam mit dem Fotografen Stephan Doleschal sucht Koch die schönsten Wiener Repräsentanten der 50er und 60er aus den Bereichen Architektur und Design.
Aktuell bitten die beiden die Bevölkerung um Mithilfe: Die Wienerinnen und Wiener sind aufgerufen, Bilder von „ihren“ Mid-Century-Juwelen unter dem Hashtag #MidCenturyVienna auf Facebook oder Instagram zu posten.
Ausgewählte Fundstücke werden dann nachfotografiert und (unter Nennung der Tippgeber) in einem Buch veröffentlicht. Im Herbst 2021 soll es erscheinen.
Lockdown hilft
Ein Vorgeschmack auf den Band ist bereits auf Kochs Website zu sehen. Zum Beispiel das Grand Café am Alsergrund mit seinem charakteristischen Mid-Century-Tresen. Oder das ehemalige See-Restaurant am Irissee im Donaupark, das unter anderem wegen seiner einzigartigen Fensterkonstruktionen als Sixties-Denkmal gilt. Oder die zeittypischen Umkleidekabinen im Bundesbad Alte Donau.
Alle Objekte werden so fotografiert, dass weder Menschen noch Hinweise auf das Aufnahmejahr auf den Bildern zu sehen sind. „Wir wollen vermeiden, dass man etwa durch ein geparktes Auto darauf schließen kann, in welcher Epoche das Foto entstand“, sagt Koch. „Der Betrachter soll sich vorstellen können, wie es dort früher einmal war.“
Der Lockdown kommt Koch und Doleschal dabei entgegen: Kinos und Lokale sind derzeit ohnehin leer.
"Wie in den Fifties"
Sie hoffen, mit ihrem Aufruf besondere Schmankerl zu entdecken. „Ein nicht zugängliches Direktorenzimmer oder so etwas in der Art wäre toll“, sagt Koch. Die Idee zu dem Projekt kam ihm, als er auf der Suche nach etwas anderem war: nach einem alten Schriftzug. Typografie aus vergangenem Zeiten hat es Koch nämlich auch angetan.
Auf einen Tipp hin fuhr er nach Strebersdorf, um dort einen Schriftzug zu begutachten. Als er an der Endstation der Linie 26 ausstieg und dort all die Mid-Century-Wohnhäuser sah, dachte er: „Wahnsinn, das ist hier wie in den Fitfties.“ Diese Erkenntnis war die Initialzündung.
Wien sei gemeinhin für Jugendstil und die Architektur des Roten Wien sowie der Gründerzeit bekannt, sagt Koch. Dabei hätten Mid-Century-Architektur und -Design genauso ihre Spuren hinterlassen.
Etwa in Form von Mosaiken auf Fassaden. Oder in Gestalt von in Blockbauweise errichteten Gemeindebauten. „Wenn man einmal beginnt, die 50er- und 60er- in der Stadt zu erkennen, dann geht das nicht mehr weg“, so Koch.
Eines seiner Lieblingsbeispiele ist das Strandbad Gänsehäufel: „Dort gehen pro Tag ganz selbst verständlich bis zu 18.000 Menschen schwimmen – in einer Infrastruktur aus den 50ern, die funktioniert und total schön ist.“ Sein Projekt solle Bewusstsein für derartige Begebenheiten schaffen.
TV-Serie als Vorbild
Den gegenwärtigen Mid-Century-Hype im Wohnbereich erklärt sich Koch übrigens mit einer Sehnsucht nach dem damaligen Lebensgefühl: „Die 50er und 60er waren Jahrzehnte, in denen ganz viel passiert ist. Sie sind gekoppelt an Aufbruchsstimmung, Leichtigkeit, Schwung, eine gewisse Eleganz. Wahrscheinlich sehnt man sich jetzt danach.“
Und nicht zuletzt handle es sich wohl auch um ein popkulturelles Phänomen – angestoßen durch die bekannte US-Serie Mad Men. Sie spielt in einer fiktiven New Yorker Werbeagentur der 1960er. Die aufwendige Ausstattung der Serie gibt das Dasein und die Ästhetik der Ära detailgenau wieder.
Inklusive Cocktailsesseln, String-Regalen, Nierenspiegeln und Tütenlampen.
Architektur und Design
Wer Tom Koch und Stephan Doleschal unterstützen möchte, der postet unter dem Hashtag #MidCenturyVienna Bilder von Architektur und Design aus den 1950er- und 1960er-Jahren in Wien. Sie werden dann nachfotografiert. Erste Bilder vom Projekt sind unter www.tomkoch.net zu sehen.
Schriften und Typografie
Im Jahr 2017 hat Koch die Sign Week, ein Festival für urbane Typografie, veranstaltet. Im selben Jahr erschien sein Buch
Ghostletters Vienna (Falter Verlag, 29,90 Euro, 160 Seiten).
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