Erinnerungen an den Gruft-Gründer: Der Pater und seine Gruftis
Anfangs waren es nur zwei Stunden. Zwei Stunden, um Menschen wie Rosie eine kurze Auszeit von der Straße zu bieten. Damals, im Jahr 1986, habe es kaum Einrichtungen für Obdachlose gegeben – und für obdachlose Frauen schon gar nicht, erzählt Rosie.
Dann hörte sie von einem Ort, an dem man Schmalzbrote und Tee bekam. Und eben die Möglichkeit, sich für zwei Stunden aufzuwärmen. „Es war im Advent, wir haben darüber gesprochen, als wir um einen am Westbahnhof aufgestellten Christbaum gestanden sind“, sagt sie.
Dieser Ort, aus dem sich später die Obdachloseneinrichtung Gruft entwickeln sollte, befand sich unter der Kirche Mariahilf in der Barnabitengasse. Gegründet wurde die Initiative, die mittlerweile zur wohl bekanntesten Obdachloseneinrichtung Wiens – wenn nicht sogar Österreichs – geworden ist, von Pater Albert Gabriel gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern des Amerling-Gymnasiums.
Gabriel ist vor wenigen Tagen im Alter von 87 Jahren verstorben – betrauert von seinen Wegbegleitern.
„Im Unterricht hat er mit uns darüber gesprochen, ob Christen immer nur von Barmherzigkeit reden oder auch wirklich etwas tun. Daraus entstand dann die Idee mit dem Tee und den Broten“, erzählt Susi Peter. Sie war eine der Schülerinnen, die das Projekt von Anfang an begleitet haben. 16 Jahre war sie alt – und nach eigener Aussage komplett unbedarft: „Wir haben damals gar keine Ahnung von Obdachlosen gehabt.“
Rosie kann sich noch daran erinnern, wie sie Susi Peter das erste Mal gesehen hat. „Sie kam rein mit ihrer Lederschultasche. Das hat so lustig ausgeschaut, wir haben alle so gelacht. Die Susi war unser Ein und Alles.“ Die Begegnung hat so Eindruck gemacht, dass Rosie Jahre später – beim 15-Jahr-Jubiläum – Peter eine Schultasche als Geschenk überreichte.
Auch an Pater Gabriel hat Rosie nur gute Erinnerungen, oft seien sie am Tisch gesessen und hätten Karten gespielt. Bei einem Turnier im Bauernschnapsen habe sie gewonnen, er sei Zweiter geworden, erzählt sie. Ob er ein guter Verlierer gewesen sei? „Na ja“, lacht Rosie. „Er hat sich schon sehr geärgert.“
Von Gruftis zur Zentrale
Keine Fenster gab es in der ursprünglichen Gruft unter der Kirche, trotzdem sei es heimelig gewesen. Ein Ort zum Entfliehen vor der harten Realität. Und vor den Blicken der anderen. Die Klienten hätten sich selbst mit Stolz Gruftis genannt, sagt Peter.
Heute benutzen sie diesen Namen nicht mehr. Unter anderem deswegen, weil es in der Einrichtung dank eines Zubaus, der 2013 realisiert wurde, Tageslicht gibt – das macht das Ganze zwar heller, aber auch ein wenig steriler. Vielleicht bezeichnen obdachlose Menschen untereinander die Gruft deswegen mittlerweile als Zentrale, wie Rosie erklärt.
Sie hat zwar schon lange eine eigene Wohnung, geht aber noch immer täglich hin, um dort Kaffee zu trinken und zu tratschen, erzählt sie. Und dann sagt sie einen Satz, den man oft hört, wenn man mit ehemaligen Klienten spricht: „Ohne die Gruft würde ich wahrscheinlich nicht mehr leben.“
Schon bald wurde das Angebot der Gruft ausgebaut – maßgeblich unterstützt vom damaligen Bürgermeister Helmut Zilk (SPÖ), der das Projekt auf eine 24-Stunden-Betreuung ausdehnen wollte. Etwas, das 1994 realisiert wurde, finanziert aus Spenden und von der Stadt Wien. Der KURIER unterstützte die Einrichtung bereits in den Anfangsjahren mit Sach- und Lebensmittelspenden.
Internationales Vorzeigeprojekt
Zwei Jahre später übernahm die Wiener Caritas die Trägerschaft der Einrichtung und hat sie bis heute inne. „Die Gruft macht deutlich, was der Einsatz von wenigen Engagierten verändern kann“, sagt Caritas-Direktor Klaus Schwertner. Heute wäre das alles gar nicht mehr so einfach möglich, meint Peter. „Wir haben uns da anfangs ohne Konzept hingestellt, auch die Finanzierung war zunächst unklar.“
Kindheit
Pater Albert Gabriel wurde 1936 in St. Peter am Wimberg im Mühlviertel geboren. Er selbst sprach in einer Rede von einer Zeit mit „langen Fußwegen ohne Schuhe, eisigen Schlafkammern und Entbehrungen“
Priesterweihe
1962 wurde er zum Priester geweiht
und arbeitete als Religionslehrer im Internat. Zwölf Jahre wirkte er dort, viele seiner Schüler traten in den Orden ein
Gruft
Als Pfarrer in Mariahilf gründete er 1986 den Vorläufer der heutigen Gruft. Spendenkonto: IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560
Trotzdem entwickelte sich die einstige Schmalzbrotausgabe zu einem internationalen Vorzeigeprojekt. „Wir haben schon Delegationen aus Tschechien oder Ungarn auf Besuch gehabt“, erzählt Gruft-Leiterin Judith Hartweger. Was man vielleicht ein bisschen besser mache, sei das Vor-den-Vorhang-Holen der Klienten – auch auf Social Media.
So solle gezeigt werden, welche Schicksale hinter den obdachlosen Menschen stehen. So wie jenes von Rosie, die als Kind von ihrem Vater missbraucht wurde, ins Heim floh, dort auch Gewalterfahrungen machte – und schließlich als Teenager auf der Straße landete.
„Aber die Gruft ist immer da gewesen, wenn ich sie gebraucht habe“, sagt Rosie.
Ein bisschen trauert sie den alten Zeiten hinterher: „Wir waren eine eingeschworene Partie und haben immer so eine Gaude gehabt.“ Jetzt sei alles ein bisschen unpersönlicher. Bei 3.331 betreuten Klienten im Jahr 2022 kann man gar nicht mehr alle gut kennen.
Wichtig sei, dass sich niemand zu schämen brauche, in der Gruft nach Hilfe zu suchen, sagt Hartweger.
Wer den Schritt wagt, hat jedenfalls die Chance, Rosie zu treffen. Und die hat noch einige Geschichten auf Lager.
Kommentare