Wie überlebe ich die Feindseligkeit in Wien? Mein Leitfaden für Deutsche
Kristin Butz
22.06.24, 05:00In der ersten Uni-Woche kann es in Wien beim Ausgehen passieren, dass man angestupst wird und dies hier hört: „He, du hast Schorle gesagt! Du bist Deitsche, ge? Warum studierst' ned im Piefkeland?“ Auf ein irritiertes Schauen und eine gestammelte Antwort folgt dann meist: „Ihr Deitschen nehmt's den Österreichern die Studienplätze weg“. Oder so ähnlich.
Beim Heurigen am Land, an der Würstelbude, im Sportverein oder beim Fußballschauen - mehr oder weniger versteckte Feindseligkeiten gibt es nach wie vor.
Man lebt seit Jahren in Wien, fühlt sich zu Hause und angekommen. Dennoch spürt man ab und an: dass man aus Deutschland kommt, scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Auch heute noch. Auch, wenn die Frage nach der Herkunft manchmal ziemlich daneben ist. Warum das so ist, weiß der Linguist Jürgen Spitzmüller.
Die obligatorische Frage: Warum Wien?
Abgesehen davon, dass Wien schnieker ist als das schmuddelige Hamburg, ist die Stadt einfach lebenswert. Wien ist vielfältig, authentisch und kulturell spannend. Und im Vergleich zu anderen Großstädten nicht so hektisch. Das kommt vor allem durch die gelassene Mentalität à la "geht sich schon aus".
Als ausgewanderte Norddeutsche mag das erst ungewohnt sein. Das muss doch schneller, effektiver, zackiger gehen. Warum sind die hier so entspannt? Na, zum Glück sind sie das. Das Leben ist ja zum Genießen da, ein guter Kaffee zwischendurch, der Tratsch am Abend bei einem Spritzer.
Natürlich muss man sich an vieles gewöhnen. Zum Beispiel an den Wiener Schmäh, das Grantig sein oder die Öffnungszeiten im Supermarkt. Auch, dass man als deutsche Person manchmal als arrogant oder besserwisserisch gilt. Aber Klischees, Missverständnisse und andere (Un-)Gewohnheiten gibt es ja in jeder Kultur, in der man sich neu einlebt.
Deutsche - aber erst, wenn man den Mund aufmacht
Anfang 2024 leben rund 62.430 Deutsche in Wien, in ganz Österreich sind es 233.000. In meinem Fall: eine hängengebliebene Norddeutsche. 2011 zog ich aus einer Kleinstadt bei Hamburg fürs Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft nach Österreich. In mehreren WGs gelebt, gearbeitet, fertig studiert und mittlerweile alleinlebend.
Ein Blick durch die Meidlinger Wohnung zeigt: Ich schätze meine nordische Heimat und liebe mein zweites zu Hause Österreich. Bilder, Bücher, Filme, Zeitungen, alles ist bunt durchmischt. Eine Elbphilharmonie-Postkarte neben einem Klimt-Plakat. Meine Freundinnen und Freunde besuchen mich im Norden. Und ich besuche wiederum ihre Familien in Tirol, Kärnten oder Vorarlberg.
Warum bleibt man trotzdem immer "die Deutsche"? Und hat das überhaupt eine gravierende Bedeutung?
„Du bist offensichtlich nicht aus Österreich …“, heißt es dann zum Beispiel im Familienheurigen einer Freundin im Mostviertel. Das kann einen negativ-mitschwingenden Unterton haben - oder Interesse zeigen. Trennt Sprache? Beziehungsweise fördert Sprache die Zugehörigkeit?
Stereotype bleiben ein Dauerbrenner
Diese Fragen beantwortet Jürgen Spitzmüller. Ein deutscher Linguist, der an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien lehrt. Zu Beginn des Interviews brannte die Frage, ob das Thema "Deutsche in Wien" überhaupt noch aktuell sei.
Spitzmüller: "Absolut! Das Thema ist virulent. Es liegt immer in der Luft. Das wird vermutlich auch so bleiben." Also doch ein Dauerbrenner. Allerdings macht jede deutsche Person in Österreich individuelle Erfahrungen. Und das hängt auch vom Dialekt ab.
Je nachdem aus welcher Region man kommt: der südwestdeutsche, norddeutsche oder bayrische Dialekt wird anders wahrgenommen. Andere Regionen in Deutschland und deren Dialekte entsprechen weniger dem Stereotyp als das Norddeutsche, nämlich dem "wie Deutsche so sind".
Gleiches gilt für die österreichische Sprache, die unterschiedliche Ursprünge hat. Begriffe und Besonderheiten der österreichischen Aussprache entstammen Mundarten und regionalen Dialekten und Klischees sowie aus den Ländern der Habsburgermonarchie.
... heißt, Bestellungen richtig verstehen:
- Saurer Radler = Bier mit Mineralwasser
- Almradler = Bier mit Almdudler
- Obi (g'spritzt) = Apfelsaft gespritzt aka Apfelsaft-Schorle
- Popcorn = Salzig, nicht süß
- Pfiff = ein "Schluck" Bier (0,1 bis 0,2 L Bier im Glas)
- Steckerlfisch = ein am Holzstab gegrillter Fisch
- Fetzen oder Fetzn = Putzlappen
- "Mit Bankomat, bitte" = Bankomat ist der Geldautomat in Österreich. Man zahlt nicht mit dem Geldautomaten, sondern gemeint ist, dass mit der Geldkarte bezahlt werden möchte.
Wie sind denn Deutsche?
Spitzmüller sagt, dass man Menschen immer an der Art und Weise, wie sie sprechen, identifiziert oder identifizieren möchte. Durch Sprachgebrauchsmuster kann man Personen sozial registrieren. Dadurch bilden sich Unterschiede heraus.
Das sei wichtig und bedeutsam für das soziale Leben - es erleichtere es sogar. "Im Alltag müssen wir oft Menschen einschätzen, die wir noch nicht kennen. Dann neigen wir dazu, unser eigenes Verhalten als typisch zu sehen und verallgemeinern das auf andere Personen." Sprache dient dabei als Orientierungshilfe. Wenn jemand "Semmel" statt "Brötchen" sagt, ist die Wortwahl bedeutsam, erklärt Spitzmüller weiter. Es definiert die Person, gestaltet die Identität und Eigenschaften eines Menschen, einer Menschengruppe.
"Einige Österreicherinnen und Österreicher scheinen besorgt zu sein, dass Deutsche ihnen Arbeits- und Studienplätze wegnehmen. Offenbar sorgt das nach wie vor für ein Ungleichheitsgefühl zwischen Deutschland und Österreich. Das gibt es aber auch zwischen Belgien und den Niederlanden." Da schwingt nach wie vor ein ambivalentes Konkurrenzgefühl mit.
Haben die Deutschen mehr Einfluss - an den Unis, in den Kulturbetrieben, generell auf dem Arbeitsmarkt? Deutsche seien auch direkter und übertreiben gerne. Dann können Sprüche bezüglich der Herkunft kommen.
Und es leben viele Deutsche in Österreich, aber genauso leben auch Österreicherinnen und Österreicher in Deutschland.
Sprache verändert sich permanent, dadurch auch die Gesellschaft?
Die österreichische Jugend nutzt das in Deutschland weit verbreitete Adjektiv "lecker". Andere meiden das Wort und finden es schrecklich. Historisch gesehen gab es die Diskussion schon immer, sagt Spitzmüller. "Ob wir Veränderungen mehr oder weniger wahrnehmen, hängt vom Alter, den persönlichen und kulturellen Erfahrungen ab. Diese Wahrnehmung der Veränderung leitet das Verhalten in der Gesellschaft."
Gesellschaftliche Veränderungen verändern Sprache. Und sprachliche Entwicklungen verändern die Gesellschaft. Manche sorgen sich, dass das Vertraute verloren geht. Dass der Dialekt oder nationale sprachliche Variationsformen abhandenkämen. Diese Sorge sei unbegründet, da der Dialekt ein Symbol der Identität sei.
Wer ist diese Erna, von der immer alle sprechen? "Erna" heißt eigentlich "eahna" und bedeutet auf Wienerisch "Ihnen" (Dativ von "Sie").
Noch mehr Sprache:
- „Es geht sich aus" bzw. "Das geht sich schon aus“ = Das klappt; das passt; das schaffen wir
- Heuer = Dieses Jahr
- (ur)zach = anstrengend, mühsam
- gemma! = gehen wir!
- Host a Tschick? = Hast du eine Zigarette für mich?
- "Als" und "wie" Verwendung
- grindig = eklig
- sudern = jammern
- Genitiv = Dem Vater sein Hut
Im Vergleich, was andere Menschengruppen in der Gesellschaft tagtäglich hören, sei das, was Deutsche hören, harmlos, so Spitzmüller, der selber Deutscher ist. Die Frage "Wo kommst du eigentlich her?" wird häufig gestellt und je nach Kontext subjektiv interpretiert. Man kann die Frage als diskriminierend empfinden - oder nicht.
Sprache ist machtvoll, kann ausgrenzen, diskriminieren und verbale Gewalt erzeugen. Jede Person kann die Frage nach der Herkunft als angreifend und schlimm empfinden oder eben nicht. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich sensibel und hat andere Erfahrungen gemacht.
Trotzdem existiert Diskriminierung, Kategorisierung und Rassismus in der Gesellschaft. Und die Frage nach der Herkunft scheint vielen unter den Nägeln zu brennen.
Wann ist die Deutsche eine Österreicherin?
Einige Zugezogene belegen sogar Sprachkurse für Wienerisch, um noch mehr "dazuzugehören". Das kann positiv aufgefasst werden, aber auch ins Gegenteil umschlagen: "Jetzt tut sie so, als ob". Oder man hört von Personen aus der Heimat: "Man merkt, dass du in Wien lebst ...". Verwendungen wie Bankomat, Spritzer, Jänner, Kren, "Es geht sich aus" oder Jause sind voll integriert.
Grundsätzlich sollte jede Person für sich selbst entscheiden, womit sie sich wohlfühlt. Und das Schöne ist ja der kulturelle Austausch. Auch mal über Gemeinsamkeiten sprechen als nur über Unterschiede. Und wenn über (sprachliche) Unterschiede sprechen, dann mit einer Prise Humor.
Kommentare