Neue Aufarbeitung: Der Terroranschlag von Wien in vier Akten
Der Attentäter von Wien, Kujtim F., hätte noch sehr viel mehr Menschen töten können. Er hatte den Sicherungshebel seines Sturmgewehrs falsch eingestellt – statt Dauerfeuer gab er nur einzelne Schüsse ab. Es ist nur eines von vielen Details, das im Zuge der Ermittlungen rund um den Terroranschlag am 2. November 2020, bei dem vier Menschen zu Tode kamen, zutage kommt. Minutiös haben die Ermittler die Stunden vor dem Terroranschlag am 2. November 2020 aufgearbeitet. Allein 108 Videokameras diverser Lokale wurden ausgewertet, dazu 301 Kameras der Wiener Linien. Sie haben den Tatablauf in vier Phasen unterteilt.
Phase IV: 31. Oktober bis 2. November, 17.44 Uhr.
Am 31. Oktober um 14.43 Uhr ruft Kujtim F. beim Polizei-Notruf an, um einen Einbruchsdiebstahl in sein Kellerabteil zu melden. Er habe ruhig und gelassen gewirkt, schildern die Beamten später. Bis 4 Uhr Früh (1. November) chattet er mit zwei Mitbeschuldigten auf Instagram. Die Nachrichten können nicht mehr rekonstruiert werden. In der Nacht auf 2. November postet er, dass er der „Wiedervereinigung mit einem Bruder im Paradies hoffnungsvoll entgegen sehnt.“ Er trifft die beiden Mitbeschuldigten. Gegen 16 Uhr lädt er sein späteres Bekennervideo hoch.
Dann ruft er im Nobellokal Le Salzgries an – doch dort ist geschlossen. Um 16.43 Uhr erhält Kujtim F. drei automatisch generierte SMS wegen des Kellereinbruchs. Unmittelbar darauf wechselt er sein Handy. Er schickt Nachrichten an seine beiden Freunde: „Bald – so Gott will – werden wir es (Kalifat, Anm.) zurückbringen wie es ursprünglich war.“
Phase III: 2. November, 17.44 Uhr bis 19.31 Uhr.
Kujtim F. trifft letzte Vorbereitungen und macht sich zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Um 19.17 Uhr postet er ein Foto mit Patronen. Darunter steht: „Der Islamische Staat bleibt.“ Neun Minuten später veröffentlicht er ein Foto von sich mit Schusswaffen und Machete.
Phase II: 19.31 Uhr bis 19.59 Uhr.
Um 19.31 Uhr trifft Kujtim F. am Schwedenplatz ein. Das Sturmgewehr trägt er in einem Sackerl. Er geht zum Le Salzgries und kehrt danach noch zwei Mal dorthin zurück. Doch das Lokal ist geschlossen. Er muss sich neu orientieren und geht zu einem Durchgang in der Seitenstettengasse, will sich anscheinend bereit machen. Doch zwei Frauen kommen, er fühlt sich gestört und geht weiter zum geschlossenen Hotel Mercure. Dort bereitet er das Sturmgewehr vor.
Phase I: 19.59 Uhr bis 20.09 Uhr.
Um 19:59:20 fallen die ersten Schüsse in Richtung Jerusalemstiege. Dort steht unter anderem Nedzip V. Er wird von zwei Projektilen tödlich getroffen. Im Laufschritt und weiterhin schießend, bewegt sich Kujtim F. zur Judengasse. Dort wird Vanessa P. erschossen. Kujtim F. muss zum ersten Mal nachladen. In der Seitenstettengasse wird Gudrun S. sein nächstes Opfer. Die Frau ist nicht sofort tot. Kujtim F. läuft zurück und schießt noch zwei Mal mit der Pistole auf sie, als sie am Boden liegt. Um 20.03 Uhr wird er auf Lokalbesitzer Li Q. aufmerksam und erschießt ihn.
Um 20:03:45 Uhr trifft ein Funkwagen ein. Es kommt zum Schusswechsel.
Ein Hausbewohner wirft mit Glasgegenständen nach dem Attentäter. Kujtim F. muss kurz stehen bleiben. Der Terrorist schießt auf einen vorbeifahrenden Mietwagen – der zum Glück keine Kundschaft bei sich hat. Inzwischen rückt die WEGA an. Um 20:08:48 Uhr wird Kujtim F. aus einer Distanz von 50 Metern tödlich getroffen.
Rund 80 Schüsse insgesamt hat Kujtim F. bis dahin abgegeben. Vier Menschen verloren ihr Leben, 18 wurden teils lebensgefährlich verletzt, weitere 18 verletzten sich bei ihrer Flucht.
Einschüsse fanden sich auch in einem Tankwagen – möglicherweise wollte ihn der Attentäter zur Explosion bringen.
Der Abschlussbericht der Ermittler nach dem Terroranschlag liegt vor. Darin werden 27 Personen als Beschuldigte geführt, sieben von ihnen sollen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ermittelt wird unter anderem wegen Beihilfe zum Mord.
Unter den sieben Beschuldigten befinden sich unter anderem jene beiden Freunde von Kujtim F., die er noch am Tag des Anschlags getroffen hatte. Angeblich, um ein Buch zurückzugeben. Auch Kujtim F.’s Mitbewohner soll eine zentrale Rolle zukommen. Seine DNA-Spuren finden sich auf den Waffen.
Die Tatwaffen sollen von einem Tschetschenen stammen, der in Slowenien lebt. Zur Übergabe kam es laut Ermittlungen bereits im Juni. Zeit genug für Kujtim F., mit den Waffen auch zu trainieren – und davon gehen die Polizisten aus. Denn: Der Attentäter wirkte äußerst sicher im Umgang mit den Schusswaffen. Auch der Vermittler zum Waffenhändler sitzt in U-Haft.
Munition wollte sich Kujtim F. mit einem Bekannten in der Slowakei besorgen. Der Fahrer bestreitet, irgendetwas gewusst zu haben.
Bis eine Anklage vorliegt, könnte es noch dauern. Der Akt ist berichtspflichtig, muss Oberstaatsanwaltschaft und Justizministerium durchlaufen.
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