Wild-Plage: Britische Kindergartenkinder sollen mehr Rehe essen
In den schottischen Highlands fressen sie die Hänge kahl, Autofahrer und Landwirte klagen über Schäden: Großbritannien hadert mit seinen Rehen. Schätzungen zufolge ist die Population auf zwei Millionen Tiere gestiegen.
Selbst zu Zeiten von Wilhelm dem Eroberer habe es in Britannien nicht so viele Hirsche und Rehe gegeben, zeigte sich die Zeitung Sun erstaunt. Das war - ein wichtiges Datum der britischen Geschichte - im Jahr 1066.
Fast 1000 Jahre später ziehen Schätzungen zufolge mehr als zwei Millionen Exemplare über britische Felder und Hügel. Immer mehr Experten warnen, dass es so nicht weitergehen könne: „Bambi“ droht der massenweise Abschuss. Doch es gibt noch einen anderen Vorschlag - der geht durch den Magen.
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Mehr Wild am Speiseplan
„Jetzt beteiligen sich Tausende von Kindergartenkindern an dem Kampf, die steigende Zahl an Rehen in Großbritannien zu kontrollieren - indem sie sie zum Mittag essen“, schrieb die Times martialisch. Als eine der ersten Bildungseinrichtungen hat das Unternehmen Tops Day Nurseries für die 4.000 Kinder, die es in Südengland betreut, Wild aufs Menü gesetzt. Gemeinsam mit der Brancheninitiative Eat Wild sind fünf Gerichte kreiert worden, zweimal innerhalb von drei Wochen soll es Wild geben - das mache 3.000 Mahlzeiten im Monat.
Cateringchef Pete Ttofis schwärmt von der Vielfalt der Speisen. Das Fleisch sei zudem nicht mit Wachstumshormonen oder Antibiotika behandelt worden, sondern komme direkt aus dem natürlichen Lebensraum. Wildgerichte gelten nicht nur als nährstoff- und vitaminreicher, sondern auch als nachhaltiger als Huhn und Schwein.
Rehbestand ist außer Kontrolle
Wie die „Sun“ berichtete, gibt es zudem Überlegungen, Supermärkte zu ermutigen, mehr Wildbret zu verkaufen. Dadurch könnten die Preise sinken - für viele Menschen, die über hohe Kosten für Energie und Lebensmittel klagen, eine Chance auf gesundes Fleisch. „Der Rehbestand ist außer Kontrolle“, sagt Eat-Wild-Chefin Louisa Clutterbuck. „Daher gibt es überhaupt kein Versorgungsproblem, im Moment herrscht ein Überangebot.“
Die enorme Population hat Folgen: Landwirte verlieren durch Rehe und Hirsche jährlich Ernte im Wert von mehreren Millionen Pfund. In Schottland verhindern sie eine flächendeckende Wiederaufforstung. 75,000 Wildunfälle im Jahr verursachen Fahrzeugschäden von rund 45 Millionen Pfund (52,6 Mio Euro) - und kosten etwa 10 bis 15 Menschen pro Jahr das Leben. Zudem können die Tiere Krankheiten übertragen.
Rehe fühlen sich tierisch wohl
Für den Boom gibt es mehrere Gründe. „Rehe hätten früher im ländlichen Raum keine Chance gehabt, weil die Menschen hungrig waren“, sagte Paul Dolman von der University of East Anglia der BBC. „Jetzt leben die Menschen nicht mehr vom Land, daher ist die Überlebenswahrscheinlichkeit für Rehe viel größer.“ Zudem haben die Tiere in Großbritannien keine natürlichen Feinde. Wölfe und Bären gibt es seit Langem nicht mehr und anders als bei Luchsen bestehen auch keine Pläne, sie wieder einzuführen.
„Alles spricht für die Rehe“, meint Peter Watson von der Organisation Deer Initiative. „Die Bewaldung hat zugenommen und die Landwirte bauen das ganze Jahr über Getreide an.“ Winterfrüchte in Zeiten, die sonst wenig Futter boten, sind eine Nahrungsquelle.
Mildere Winter aufgrund des Klimawandels würden zu erhöhter Fruchtbarkeit der Tiere beitragen, sagte Watson. Dass während der Pandemie die Nachfrage von Restaurants deutlich sank, gilt als weiterer Grund für den steilen Populationsanstieg: Schätzungsweise 80 Prozent der geschossenen Rehe gingen zuvor an die Gastronomie.
Die Branche hofft auf eine Trendwende. Ein Hauptfaktor bei der Kontrolle der Bestände ist der Preis, den Jäger erzielen können. Steigt die Nachfrage nach Wildbret, könnten sie angeregt werden, mehr zu schießen.
Bisher werden jedes Jahr etwa 350.000 Tiere erlegt. Viel zu wenig, meinen Experten. Nötig seien bis zu 750.000 Abschüsse. Naturschützer würden eine Population von weniger als einer Million als nachhaltig einstufen, um wirtschaftliche und ökologische Folgen zu verringern, berichtete die Times.
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