Karibikküste Kolumbiens: „Eine lang verdrängte Realität wird sichtbar“

Karibikküste Kolumbiens: „Eine lang verdrängte Realität wird sichtbar“
Seit drei Monaten ist Josefine Male in Cartagena in Quarantäne. Die Infektionszahlen steigen. Die Intensivbetten sind gefüllt.

In unserer neuen Serie "E-Mail aus..." berichten Österreicherinnen und Österreicher aus aller Welt davon, wie sie die Corona-Krise wahrnehmen.

Cartagena ist das Herzstück der kolumbianischen Karibik. In seinen Stadtmauern verbirgt sich das historische und kulturelle Erbe des Landes, Inspiration für die Romane von Gabriel García Márquez, umgeben von paradiesischen Inseln und Stränden - ein magischer Ort. Schon lange ist die ehemalige Kolonialstadt ein Touristen Hotspot. Die Straßen sind bunt geschmückt und belebt, eine Oase von kleinen Boutiquen, Restaurants, Cafés und Hotels. Doch während sich das Stadtzentrum in eine einzige, für Touristen aufbereitete, Fassade verwandelte, wuchs das echte Cartagena über seine Mauern hinaus und zeigt die tatsächliche Realität einer immer wieder aufs Neue gebeutelten Gesellschaft. 

Mittlerweile gibt es mehr als 4.000 Covid-19 Fälle und 200 Tote. Cartagena macht ein Zehntel der gesamten Fälle in Kolumbien aus, dabei lebt hier knapp eine Million Menschen, das sind gerade einmal 2% der kolumbianischen Bevölkerung. Wieso sind die Zahlen hier also so hoch?

Eine der naheliegendsten Begründungen liegt in der Beschäftigungsart der KüstenbewohnerInnen. Denn 60% der Berufstätigen in Cartagena arbeiten im informellen Sektor, ohne Vertrag und ohne Absicherung. Wirtschaftlich basiert die Stadt auf dem System des „Rebusque“ – des Herumsuchens. Wer nicht gerade im Tourismus tätig ist, findet Arbeit auf der Straße oder auf Märkten. Es werden Obst und Gemüse, frischer Fisch, Souvenirs und mittlerweile Masken und Handschuhe verkauft. Obwohl also Geschäfte seit Mitte März geschlossen bleiben und die Ausgangsbeschränkungen immer wieder verschärft werden, findet das Leben weiterhin auf der Straße statt. Denn wer von der Hand in den Mund lebt, kann es sich nicht leisten, wegen eines Virus zuhause zu bleiben.

Während in den letzten Monaten die Polizei an verlassenen Stränden in einer Vielzahl patrouillierte, um zu kontrollieren, dass auch wirklich niemand schwimmen geht und somit gegen die Sicherheitsmaßnahmen verstößt, wurden die wirklichen Gefahrenzonen scheinbar gezielt gemieden. Auf dem „Mercado Bazurto“, dem Hauptmarkt, drängelten sich nach wie vor die Menschenmassen ohne Sicherheitsabstand, um einzukaufen und den ständig erhöhten Supermarktpreisen zu entgehen. Die VerkäuferInnen beschwerten sich über die mangelnden Kontrollen an Ein- und Ausgängen von Seiten der Behörden. Erst zwei Monate nach Einführung der Sicherheitsmaßnahmen wurde der Markt, gemeinsam mit den am Stärksten betroffenen Stadtvierteln, gänzlich geschlossen.

Die Ärmsten betroffen

Doch mit der Isolierung tut sich die Politik keinen Gefallen. Nicht grundlos trifft die neue Regelung besonders arme Viertel. Gegenden, in denen viele keine Arbeit haben, wo Home-Office nicht möglich ist, die Kinder nicht am virtuellen Schulunterricht teilnehmen können. Gegenden, in denen es oftmals kein Wasser oder keinen Strom gibt. Wie soll man sich da an irgendwelche Maßnahmen halten?

Die Regierung und der hiesige Bürgermeister William Dau Chamat versuchen vor Allem mit dem Austeilen von Lebensmittel auf diese Situation zu reagieren. Auf Social Media postet das Bürgermeisteramt jeden Tag Fotos von lächelnden, dankbaren Frauen und Kindern, die Lebensmittelsäcke in die Kamera halten. In dem Viertel, in dem ich wohne, wurden ein paar Supermarktgutscheine für Grundnahrungsmittel verteilt. Einmalig, vor einem Monat.

Aber abgesehen von einer nicht enden wollenden Quarantäne, was hat sich eigentlich getan in den vergangenen Monaten? Die Ausgangssperre wurde zu einem Zeitpunkt eingeführt, da gab es gerade einmal fünf Fälle in Cartagena. Die Idee war also, Zeit zu gewinnen, die Kurve möglichst flach zu halten, sich auf den Höhepunkt vorzubereiten. Dieser rückt jetzt immer näher, die Intensivbetten sind belegt und die Krankenhäuser verfügen nicht über die nötigen Ressourcen. Hinzu kommt der starke Verdacht eines Korruptionsfalles. Denn nachdem Anfang April zehntausend Corona-Schnelltests zum fast dreifachen Marktpreis gekauft wurden, fehlt von ihnen bis heute jede Spur. Kurz nach Bekanntwerden dieses Skandals trat der Vorsitzende des hiesigen Gesundheitsamts Álvaro Fortich Revollo zurück. In Zeiten der Krise vermittelt das nicht unbedingt ein Gefühl von Sicherheit.

Kränkelndes Gesundheitssystem

Nach Wochen und Monaten des Wartens, trafen Ende Mai erstmals 29 Beatmungsgeräte ein. Und auf Instagram verspricht das Bürgermeisteramt 240 zusätzliche Betten, die bereit gestellt werden sollen. Wann genau, bleibt aber unklar. Fakt ist, dass innerhalb von drei Monaten, bei einem eindeutigen Anstieg der Infektionen und bei einer relativ hohen Sterberate, weder Betten noch medizinische Geräte zur Verfügung gestellt wurden.

Schon vor der Pandemie haben die Krankenhäuser und das Gesundheitssystem in Kolumbien enorm gelitten. Durch Korruption, Verschuldung und Ineffektivität zeigt die medizinische Infrastruktur große Lücken auf.  Zudem sollen sich die Kosten für Schutzmaterial verdreifacht haben, und das, obwohl die Regierung Anfang April eine Liste mit Produkten veröffentlichte, deren Preise während der Coronakrise nicht erhöht werden dürften. Neben einigen vielen Grundnahrungsmitteln erfasst diese Liste medizinische Geräte, Medikamente und Reinigungsmittel. Die Frage ist nur, inwiefern sich Unternehmen an diese Anordnung halten und wie sorgfältig sie überprüft wird.

Die Regierung appelliert an die Disziplin der Bevölkerung. Solange die Beschränkungen nicht eingehalten werden, kann auch nicht mit einem Rückgang der Zahlen gerechnet werden. Doch dieser ewige Ausnahmezustand hinterlässt seine Spuren. Die Nerven liegen blank, häusliche Gewalt und Kriminalität steigen.

In meiner Wohngegend schoss vor ein paar Wochen ein Nachbar im Zuge eines Familienstreits dreimal in die Luft. Der Streit und die Schüsse waren deutlich hörbar, was rundum für enorme Aufregung sorgte. Letztens liefen Jugendliche mit Baseballschlägern an meinem Haus vorbei, um einen Dieb zu verprügeln, auch so etwas entspricht hier nicht der Normalität und zeigt das ständig wachsende Aggressionspotenzial. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen auf der Straße, und so viele Fälle bleiben verborgen hinter den eigenen vier Wänden.

Die Zermürbtheit der Bevölkerung ist klar zu spüren. Anstatt mit Autorität und harten Strafen gegen die Bevölkerung vorzugehen, sollte sich die Regierung inhaltlich mit der Problematik auseinandersetzten. Wer keinen Zugang zu Wasser hat, kann sich nicht die Hände waschen. Wer zu siebt in einer zwei Zimmer Wohnung lebt, kann schwer Sicherheitsabstände einhalten. Wer keine Arbeit hat, kann nicht zuhause bleiben und seine Familie verhungern lassen.

 

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