Gefängnispopulation: Was wir von Slowenien lernen können

Gefängnispopulation: Was wir von Slowenien lernen können
Österreichs Gefängnisse platzen aus allen Nähten, das kleine Nachbarland ist EU-weit Vorreiter.

Wer an Vorbilder für einen menschlichen Strafvollzug denkt, der denkt an Skandinavien. Doch ein kleines Land in Mitteleuropa setzt Maßstäbe.

Am Anfang stehen zwei Zahlen: 65 und 102. Es sind die Gefangenenraten von Slowenien und Österreich. Die beiden Nachbarländer haben viel gemeinsam – und doch sperrt Slowenien deutlich weniger Menschen in Gefängnisse. Das kleine Land ist auf skandinavischem Niveau, Österreich liegt etwa im europäischen Durchschnitt.

Die Gefangenenrate Sloweniens ist das Ergebnis unzähliger Faktoren. Es geht um Sozialismus, Egoismus, um zweite Chancen und psychisch kranke Straftäter. Am Ende steht die Frage: Was kann Österreich von Slowenien lernen?

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Wieso ist eine niedrige Gefängnispopulation erstrebenswert?

Robert Friškovec von der staatlichen Gefängnisverwaltung sagt es so: „Eine niedrige Gefängnispopulation zeigt, dass der Staat in der Lage ist, Strafen auf anderem Wege auszuführen.“ Forscherin Mojca Plesničar gibt zu bedenken, dass moderne Gefängnisse nicht effektiv sind. „Sie tun nicht das, was wir denken“, sagt sie und begründet das mit der hohen Rückfallsquote, die je nach Justizanstalt zwischen 20 und 50 Prozent liegt. Außerdem kostet dem Staat jeder Häftling viel Geld.

Kriminalität und Verurteilungen

Slowenien und Österreich gelten als sehr sichere Länder. In Wien und in Ljubljana können Nachtschwärmer die Stadt erkunden und ihnen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts passieren. Beide Länder verurteilen an der Bevölkerung gemessen etwa gleich viele Menschen. In Slowenien sind es rund 6.200 Verurteilungen bei 2,07 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, in Österreich beinahe 28.300 Verurteilungen bei einer Bevölkerung von 8,77 Millionen.

„Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Kriminalitätsrate und Gefängnispopulation“, sagt Mojca Plesničar. Die slowenische Wissenschaftlerin forscht zur Bestrafung von Menschen. Wie viele davon im Gefängnis landen habe mehr mit der Justizpolitik zu tun als mit der Zahl von Verbrechen. "Bestrafung ist ein vielschichtiges Phänomen und Slowenien war immer schon ein Aureißer", sagt sie. "Weil das Land klein ist, kennen viele Menschen eine Person, die im Gefängnis ist oder war. Das öffnet manchen die Augen und schafft Verständnis."

Gefängnispopulation: Was wir von Slowenien lernen können

Slowenien war immer schon ein Ausreißer, sagt Mojca Plesničar im Skype-Interview

Es ist Juli, Hochsommer, Sloweniens Hauptstadt Ljubljana ächzt unter 36 Grad. Die halbe Stadt ist auf Urlaub, so auch Professor Gorazd Meško, einer der bekanntesten Kriminologen des Landes. Er forscht seit Jahren zu Gefängnissen, speziell in Slowenien, seine Arbeit brachte ihn auch in die Gefängnisse Russlands und in Polizeistationen der USA. Der 53-Jährige fing als Polizist an. „Ich war sehr streng“, sagt er und man mag es ihm kaum glauben. Meško sitzt mit blauem Poloshirt und herzlichem Lachen im Tankstellen-Café des kleinen Orts Preddvor, wo er Urlaub macht. Heute ist er großer Verteidiger der zweiten und manchmal dritten Chance.

„Eine Straftat erzeugt immer einen Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft“, sagt er später in seinem Home Office, „Es ist leicht, dem Individuum die Schuld zu geben. Doch manchmal spiegelt es nur die gesellschaftlichen Probleme wider.“

Gefängnispopulation: Was wir von Slowenien lernen können

Gorazd Meško vermisst selbstloses Handeln in unserer Gesellschaft

Gemeinsam mit seinem Kollegen Benjamin Flander arbeitete er drei Jahre lang an einem wissenschaftlichen Paper zur Besonderheit Sloweniens in Sachen Gefängnispopulation.

Eine Theorie fußt der langen Geschichte von geringen Klassenunterschieden und einer Gleichförmigkeit der Bevölkerung. Die Fundamente dafür reichen zurück bis in die Österreichisch-Ungarische Monarchie, der Slowenien bis zum Ende des ersten Weltkriegs angehörte.

Slowenien ist erst seit 1991 eine unabhängige Demokratie. Davor war es Teil Jugoslawiens. Die Fundamente der Solidarität und Gleichheit gemeinsam mit den Überresten des sozialistischen Gedankengutes und des starken Wohlfahrtsstaates könnten eine Erklärung liefern, wieso die slowenische Gefangenenrate zwar gestiegen, verhältnismäßig aber immer noch sehr niedrig ist, während sich andere ex-jugoslawische Länder in die entgegengesetzte Richtung entwickelten.

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Gefängnis oder Bewährung

Historisch gewachsen ist auch die Tradition von bedingten Strafen, also solchen, bei denen die Verurteilten auf Bewährung freikommen. Rund 71 Prozent der Strafen werden in Slowenien bedingt ausgesprochen. In Österreich sind es nur 45 Prozent. Aber: Die Anteile der Freiheitsstrafen sind mit jeweils rund 20 Prozent fast ident.

Es werden also ähnlich viele Menschen verurteilt und von diesen Verurteilungen sind fast gleich viele Gefängnisstrafen.

Herausgerissen

Erst seit 2018 hat Slowenien eine staatliche Bewährungshilfe. Danijela Mrhar Prelič ist die Leiterin. „Mein Ziel ist es, die Gefängnispopulation zu reduzieren, den Häftlingen professionelle Behandlung zu bieten und die Insassinnen und Insassen davon abzuhalten, wieder eine Straftat zu begehen.“

Prelič war zuvor über fünf Jahre Leiterin des einzigen Frauengefängnisses. Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren sollten vermehrt zu alternativen Sanktionen führen. „Kurze Gefängnisaufenthalte haben einen negativen Effekt“, sagt sie. Die Menschen würden aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen, verlören ihre Jobs und die Verbindung zur Außenwelt.

Alternative Sanktionen wirken sich positiv auf die Gefangenenrate aus. Forscherin Plesničar beschreibt die Rate als eine grobe Zahl, hinter der viele komplexe Phänomene stecken. „Die Zahl zeigt etwas auf. Wir wissen allerdings nicht, was. Sie kann hoch sein, wenn sehr viele Menschen für eine kurze Zeit im Gefängnis sind. Oder wenn wenige Häftlinge sehr lange Strafen haben.“

Im Vergleich zeigt sich, dass in Slowenien und Österreich ähnlich lange Gefängnisstrafen geben.

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Die Grafik vergleicht nur reguläre Strafen, da es in Slowenien keinen Maßnahmenvollzug, also keine Justizanstalten für psychisch kranke Rechtsbrecher gibt. In diese Anstalten in Österreich werden Menschen für unbestimmte Zeit eingewiesen. Manche bleiben sechs Monate, andere bleiben bis zum Lebensende im Maßnahmenvollzug.

(K)eine Reform

Spätestens seit Falter-Journalist Florian Klenk im Jahr 2015 aufdeckte, dass in einer Anstalt einem psychisch kranken Insassen  die Füße faulten, steht der Maßnahmenvollzug in heftiger Kritik. Der damalige Justizminister Wolfgang Brandstetter setzte sofort eine Arbeitsgruppe ein, die Vorschläge für eine Reform brachte und ließ weitere Spezialisten ein Gesetz ausarbeiten.

Die Gesetzesvorlage gibt es seit Jahren. Der vor kurzem ausgeschiedene Justizminister Josef Moser versprach, sich der Reform anzunehmen. Geschehen ist allerdings nichts. Clemens Jabloner, der Teil der Expertenregierung ist, wird das Thema nicht anfassen. Er ebnet zwar seiner Nachfolge den Weg mit einem Gesetzesvorschlag zur Gefängnisreform, überlässt die Umsetzung aber der nächsten Regierung.

In Slowenien werden solche Personen in Psychiatrien untergebracht. Sie sind also Teil des Gesundheitssystems. Ein Gericht entscheidet alle sechs Monate über den Verbleib.

In anderen Fällen kann die Person sowohl zu einer Strafe verurteilt, als auch in einer Psychiatrie untergebracht werden. Die Zeit dort wird der Strafe angerechnet.

Es gibt zwei wichtige Unterschiede zum österreichischen System: Erstens kümmert sich der Gesundheitssektor um die Betroffenen. Sie sind also nicht Teil des Justizsystems und fließen nicht in die Gefangenenrate ein. Zweitens ist die Dauer der Unterbringung auf fünf Jahre beschränkt. In Österreich ist sie auf unbestimmte Zeit.

Eine Berechnung des Council of Europe zeigt, welchen Einfluss der Maßnahmenvollzug auf die Gefängnispopulation hat. 2018 war die Rate bei 102. Ohne die speziellen Anstalten für psychisch Kranke wäre Österreich bei 77.

Hinweis: Diese Reportage ist im Rahmen von Eurotours 2019 entstanden, ein Projekt des Bundespressedienstes.

Die Autorin bedankt sich bei allen Inverviewpersonen: Mojca Plesničar, Gorazd Meško, Robert Friškovec, Anže Boštic, Danijela Mrhar Prelič und Darja Tadič.

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