Prügelvideo: "Sie haben erreicht, was sie wollten" - Aufmerksamkeit

Prügelvideo: "Sie haben erreicht, was sie wollten" - Aufmerksamkeit
Monika Pinterits von der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien sieht nach der Attacke auf ein 15-jähriges Mädchen auch die Politik in der Verantwortung. Sie solle helfen, den Umgangston in den sozialen Medien zu deeskalieren anstatt zu befeuern.

Ein 15-Jähriges Mädchen wird von einer Gruppe Gleichaltriger attackiert, brutal geschlagen und getreten - auch dann noch, als sie bereits Blut spuckt. Die Prügelattacke sorgt seit dem Wochenende österreichweit für Entrüstung. Auch, weil das dazugehörige Video auf Facebook über drei Millionen Mal aufgerufen wurde. Polizeilich ist der Fall abgeschlossen. Alle beteiligten Jugendlichen konnten ausgeforscht werden, die Rädelsführerin wurde verhaftet. Was das Gewaltvideo über den Umgang Jugendlicher mit den sozialen Medien aussagt und welchen Einfluss diese haben, darüber haben wir mit der Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits Wien gesprochen.

Kurier.at: Ist das Video ein Einzelfall oder ein weiter reichendes Phänomen? Wie viele solcher Übergriffe gibt es?

Monika Pinterits: Dazu gibt es keine Zahlen. Die Statistik weist nur Körperverletzungen beziehungsweise schwere Körperverletzungen aus, aber nicht, ob diese auch gefilmt worden sind. Generell ist die Jugenddelinquenz (Anm.: = Straffälligkeit) gesunken (siehe Zahlen unten). Einzelfälle sind solche Videos aber nicht. Im Netz kursieren unter einschlägigen Suchbegriffen hunderte solcher Aufnahmen. "Happy Slapping" nennt sich das dort. Wobei man oft nicht weiß, ob die Personen auch tatsächlich verletzt wurden oder nicht.

Ist das eine neue Qualität von Gewalt?

Man muss allgemein von einer neuen Qualität der Gewalt sprechen. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen. Alles wird brutaler. Es gibt ja nicht so viele Jugendliche, die solche Aktionen machen, das ist mir ganz wichtig zu sagen. Es ist nicht ‚die Jugend‘. Es sind einzelne Jugendliche, die das aus unterschiedlichen Gründen machen – und in den meisten Fällen selber massive Probleme haben und selbst Unterstützung brauchen würden, damit sie sich keine Opfer suchen, an denen sie ihre Wut auslassen. Jugendliche haben es schwer in der öffentlichen Diskussion. Da wird bei einem Einzelfall immer gleich von ‚der Jugend‘ gesprochen. Und das stimmt in keinster Weise.

Weshalb wird der Gewaltausbruch auch auf Facebook geteilt?

Wenn ich das Gefühl habe nicht groß genug zu sein, nichts wert zu sein, dann glaube ich durch solche Aktionen Bestätigung erfahren zu können. In diesem Fall ist das besonders dramatisch. Die Jugendlichen haben damit – jedenfalls am Anfang – genau das erreicht, was sie haben wollten: eine riesige Aufmerksamkeit. Jetzt ist die Staatsanwaltschaft gefragt, den Tatbestand aufzuklären. Aber man darf die betroffenen Jugendlichen, die ja selbst massive Probleme haben, nicht nur mit dem Strafgericht sanktionieren. Man muss sie auch so weit bekommen, dass sie solche Aktionen einfach nicht mehr notwendig haben. Stichwort Anti-Gewalt-Kurse, wo Jugendliche Empathie für jemand anders lernen. Das sind oft Jugendliche, die selbst so große Probleme haben, dass sie sich selber nicht spüren. Nur wegsperren ist nicht sinnvoll. Unsere Gesellschaft ist ohnehin nicht sehr jugendfreundlich. Früher hat man mit den Jugendlichen gesprochen, jetzt greift man zum Hörer und ruft die Polizei an.

Facebook potenziert die Selbstbestätigung, das Gefühl der Macht ja geradezu.

Ich kenne die genaue rechtliche Lage nicht, aber diese Plattformen haben die Verantwortung darauf zu achten, dass solche Videos gelöscht werden. Das Video ist drei Millionen Mal angeschaut worden, das ist ja ein Wahnsinn.

Ist das auch Teil der von Bundeskanzler Christian Kern angesprochenen "Verrohung der Gesellschaft“? Dass das Video nicht nur gemacht, sondern auch drei Millionen Mal angeschaut wird?

Natürlich, wenn man sich die Statements in den Foren anschaut, ist schon die Sprache sehr viel gewalttätiger geworden. Es sind Tabus gebrochen worden – und jetzt muss die Gesellschaft mit dem Strafrecht darauf reagieren. Aber wie kommt es denn dazu? Wieso trauen sich Menschen jetzt plötzlich so radikale Einträge zu machen? Was ist da in den Köpfen der Menschen passiert? Wenn offiziell Gewalt gegen Frauen toleriert wird, wenn rassistische Meldungen auch von Vorbildpersonen ohne größeren Widerspruch getätigt werden, dann ist das natürlich ein Signal. Da hat Politik auch eine riesige Vorbildwirkung. Die Gewalttaten sind furchtbar und für die betroffenen Opfer, die dadurch traumatisiert wurden, ist es notwendig, dass sie sämtliche Hilfe und Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Unserem Verständnis nach können jedoch nicht nur Sanktionen durch Exekutive und Justiz angewendet werden. Es muss auch mit diesen Jugendlichen pädagogisch gearbeitet werden, um weitere Eskalationen zu verhindern. Es ist notwendig, dass wir als Gesellschaft eine Verantwortung für solche Auswüchse übernehmen damit solche Taten möglichst vermieden werden.

Ein Gewaltvideo als letzte Konsequenz der sprachlichen Verrohung in den sozialen Medien?

Es geht in diese Richtung, und das ist besorgniserregend. Deshalb finde ich Bestrebungen so wichtig, gegen Hate-Speech im Internet vorzugehen. Da sind auch Facebook und sämtliche andere Betreiber gefragt. Schwierig ist auch die breite Berichterstattung in den Medien. Hier ist immer die Gefahr eine sekundären Traumatisierung. Die Betroffenen lesen ja auch die Berichte und die Kommentare. Wenn ich das Video ins Netz stelle und dafür sorge, dass sich andere das auch noch anschauen, dann ist das problematisch.

Link: www.kija.at

Aktuelle Zahlen für 2016 gibt es noch nicht. Für 2015 weist das Innenministerium einen Rückgang der Jugendkriminalität von 9,5 Prozent aus. Als Vergleichswert wurde dabei die Zahl der Tatverdächtigen im Alter von 14 bis 17 Jahren herangezogen. Diese ging von 26.817 im Jahr 2014 auf 24.257 zurück. Nur im Bundesland Wien wurde ein Anstieg von rund zwei Prozent verzeichnet. 6.244 Tatverdächtige zwischen 14 und 17 Jahren wurden in der Bundeshauptstadt registriert. 3.673 solcher Fälle gab es in Niederösterreich, was einen Rückgang von rund acht Prozent in dem Bundesland bedeutete.

Die drittmeisten Verdächtigen wurden bei Straftaten in Oberösterreich ausgeforscht, die 3.562 dort angezeigten Jugendlichen waren allerdings um 16 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Den größten Rückgang gab es mit einem Minus von 26 Prozent in Vorarlberg, wo im Vorjahr 1.254 tatverdächtige Jugendliche in der Statistik aufschienen. 5.907 Tatverdächtige in Österreich waren im Vorjahr unter 14 Jahre alt und damit strafunmündig.

Das bedeutete einen Rückgang um 17 Prozent im Jahresvergleich, aber immer noch rund 16 angezeigte Kinder pro Tag. 5.156 Verdächtige waren zwischen zehn und 13 Jahre alt, 751 - also zwei Tatverdächtige pro Tag - waren jünger als zehn Jahre.

Österreichweit wurden im Vorjahr insgesamt 123.057 Jugendliche mit Maßnahmen zur Kriminalprävention erreicht.

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