Wo die Luchse lautlos durch Österreich schleichen
Vorsichtig öffnet Thomas Engleder die Abdeckung der tarngrünen Wildkamera, die in Kniehöhe an einer Fichte angebracht ist. Er nimmt die Speicherkarte heraus und steckt sie in sein Tablet, das er aus dem Rucksack gefischt hat. Weiße Augen erscheinen auf dem Bildschirm. „Ein Fuchs“, sagt Engleder und wischt zum nächsten Bild. „Reh, Marder, Amsel, Feldhase, Füße“, kommentiert er und wischt immer schneller – bis er durch ist.
Er hat vieles gesehen und doch nicht gefunden, wonach er gesucht hat: einen Luchs. Dabei leben mehr als 130 Exemplare in dem Gebiet, durch das Engleder gerade bei Haslach an der Mühl (Bezirk Rohrbach in OÖ) wandert.
Fünftel treibt sich in Österreich herum
Engleder ist einer der führenden Luchsexperten Österreichs. Sein Revier ist der Böhmerwald und dessen Ausläufer – konkret der Anteil Oberösterreichs. Denn die „böhmisch-bayerisch-österreichische Luchspopulation“ erstreckt sich über die drei genannten Regionen. Von den rund 130 Tieren treibt sich etwa ein Fünftel in den österreichischen Wäldern herum. „Luchse tragen ja kein Mascherl. Ihnen ist die Grenze egal“, betont Engleder, wie wichtig es deshalb ist, zusammenzuarbeiten. Auch ins Waldviertel trauen sich einige der Tiere. Dort habe man aber ein eigenes Monitoring installiert, erzählt Engleder.
Der Boden in seinem Revier ist weich und mit Gras, Moos, Nadeln und verdorrtem Laub bedeckt. Immer wieder kommt er an großen Felsen vorbei.
Bei einem bleibt Engleder stehen – denn er weiß, wo der Luchs sich am wohlsten fühlt und gerne sein Revier markiert: „Luchse sind nacht- und dämmerungsaktiv. Tagsüber hat er gern den Überblick und liegt auf einem Felsen.“ Zu sehen bekommt man die Tiere, die in Österreich als „stark gefährdet“ auf der Roten Liste stehen, dennoch kaum.
Statur
Ein Luchs hat in etwa die Größe eines Schäferhunds, jedoch ist er nicht so schwer: Er wiegt um die 20 Kilo.
Nahrung
Zwei Kilogramm Fleisch braucht ein Luchs pro Tag. Das entspricht einem Reh pro Woche. Hat er eines erlegt, schleift er es an einen sicheren Ort und kehrt immer wieder zum Fressen zu seiner Beute zurück. Wilderer nutzen das aus.
70 Kilometer/Stunde kann ein Luchs auf kurze Distanz laufen. Meist ist er aber gemütlich unterwegs
100 Quadratmeter beansprucht ein Luchs im Durchschnitt.
"Marienerscheinung"
Seit 25 Jahren ist Engleder als Selbstständiger in Sachen Luchs unterwegs. Aber auch er hat erst einen in freier Wildbahn gesehen: Im Winter, als er mit dem Auto unterwegs war und ein Luchs vor ihm die Straße querte. „Das war wie eine Marienerscheinung. Gott sei Dank saß jemand neben mir im Auto, der es mir bestätigen konnte“, zeigt sich Engleder noch immer fasziniert. Dass er die Tiere so selten zu Gesicht bekommt, macht ihm aber nichts aus: „Ich gehe trotzdem mit einem ganz anderen Empfinden durch den Wald.“ Denn irgendwo sind sie: „Der Luchs hat uns schon lange gesehen und hat sich versteckt oder ist davon geschlichen.“
Durch die Auswertungen der Wildkameras, zu denen er bis zu eine Stunde lang wandern muss, konnten dennoch schon mehr als 130 Luchse mit einer ID versehen werden. Teilweise auch mit Namen, sofern man das Geschlecht bestimmen konnte. „Den B97 haben wir 2019 das erste Mal gesichtet. 40 Aufnahmen und zwei Jahre hat es gebraucht, bis er in Tschechien seine Hoden gezeigt hat.“ Weibchen hingegen erkenne man an den Jungtieren an ihrer Seite.
Nur einige überleben
60 Junge werden in einem Jahr von den 30 „reproduzierenden“ Luchsweibchen geboren. Doch von den Jungen überlebt nur die Hälfte das erste Jahr. Davon stirbt nochmals die Hälfte, bevor sie ein eigenes Revier finden. Übrig bleiben 15 Stück – zu wenig.
Denn zusätzlich sind der Verkehr und Wilderei ein Problem. „Die Luchsin Michelle etwa war plötzlich verschwunden. Ein Jahr später fand man sie in einer Kühltruhe. Wir gehen von mindestens zehn Luchsen aus, die jährlich den Wilderern zum Opfer fallen“, sagt Engleder, der härtere Strafen dafür fordert.
Im Februar und März ist bei den Luchsen Paarungszeit. Ende Mai, Anfang Juni kommt ihr Nachwuchs zur Welt. Doch wie Luchsexperte Thomas Engleder erzählt, tauchen im Herbst – zur Jagdsaison – vermehrt verwaiste Luchsjunge auf. Verzweifelt würden sie Beute suchen, so der Experte. Ohne Hilfe überleben sie nicht.
Für Engleder sind diese Jungtiere die Chance auf eine gesunde Luchspopulation. Denn sie seien die perfekten „Management“-Luchse für den genetischen Austausch zwischen den Populationen. So könne man Inzucht vermeiden. In Bayern wurde nun eine Auffangstation für sie installiert.
Dies sei auch eine Möglichkeit für den Nationalpark Kalkalpen, der eine sechsköpfige Luchstruppe beherbergt, jedoch fehlt Nachwuchs. Ein Austausch des Luchsmännchens könnte die Lösung sein. Jedoch nicht langfristig, meint Engleder. Für eine gesunde Population brauche man 15 Luchse. Für die Population rund um den Böhmerwald siedelte Tschechien in den 80er-Jahren 17 Tiere an.
Denn es genüge ein entnommenes Tier, um das System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Einerseits fehle der Nachwuchs, andererseits könne das Gebiet nicht weiter wachsen, erschließen Luchse ihr Revier gerne neben dem eines anderen. Dabei wäre das genau das Ziel: Korridore für Luchse auszuweiten, um den nötigen Gen-Austausch zu ermöglichen. Nur so werden mit der Zeit immer mehr Luchse in die Fotofalle tappen.
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