Wir werden in Waldstädten leben
Das Haus im Grünen – ein Traum für viele. Die Pandemie hat ihn befeuert. Denn was haben die Metropolen noch zu bieten? Zugleich hat die Sehnsucht nach Landidylle im Einfamilienhaus die Diskussion um Flächenfraß im Umland der Städte weiter aufgeheizt. Kommt nach der Flugscham jetzt die Einfamilienhausscham?
Von New York bis San Francisco sinken derzeit die Mieten, seit Beginn der Pandemien strömen die Menschen hinaus aufs Land. Die Stadtflucht in Krisenzeiten hat Tradition: Als 1348 in Florenz die Pest wütete, zogen die Reichen ins Grüne. Das beschreibt schon der Dichter Boccaccio in seinem „Decamerone“: Die Adeligen vergnügten sich in ihren Landvillen und waren sicher vor der Pest. Die Dichte der Stadt hat ihre Tücken, die Pandemie stellt Fragen nach Nähe – Abstand halten ist nicht so einfach.
Auch in Wien und Umgebung spürt man den Trend zur Flucht aufs Land. Er beschäftigt die Immobilienmakler. Das Einfamilienhaus mit Garten erfreut sich trotz wachsender Kritik – in Deutschland wird ein Verbot aus ökologischen Gründen diskutiert – anhaltend großer Beliebtheit. In den Wiener Mietpreisen hat sich die Landliebe noch nicht manifestiert – diese sinken mitnichten.
Das Architekturzentrum Wien zeigt derzeit in der Ausstellung „Boden für alle“, was sorgloser Umgang mit der Ressource Boden anrichtet. Begleitend zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen.
„Boden für alle“. Hg.: Angelika Fitz, Karoline Mayer, Katharina Ritter, Architekturzentrum Wien. Park Books, 320 Seiten, 38 Euro.
Die Vorstellung vom Leben auf dem Land ist die eine Seite. Die andere: drastisches Bevölkerungswachstum. Es bleibt trotz Covid die größte Herausforderung für die Städtebauer dieser Welt. Der Boden reicht nicht mehr, wenn wir in diesem Tempo weiterwachsen. Gegenwärtige Prognosen sehen die Gesamtzahl der Weltbevölkerung im Jahr 2050 bei 9,7 Milliarden Menschen. Mehr als sechs Milliarden davon werden in Städten leben. Dazu kommen klimawandelbedingte Hitze und kollabierender Verkehr. Wir haben mehr als ein Problem.
1.000-Meter-Türme
Architekt Fritz Schöffauer glaubt, dass er die meisten davon mit über 1.000 Meter hohen Türmen in den Griff bekommen könnte. Der Wiener Architekt will angesichts des zunehmenden Bodenfraßes in Stadt und Land Fläche in der Luft finden. In zusätzlichen Schichten oder „ergänzenden Ebenen“, „Additional Layers“, wie er sein Projekt nennt. Über Wien würde er gerne zusätzliche Ebenen legen und so Lebensraum für zweieinhalb Millionen Menschen schaffen. Und das bei sehr geringem Bodenflächenverbrauch. Entlang von
U-Bahnstationen möchte er Türme errichten. 1.032 Meter über der Stadt, ab einer Höhe von 744 Metern soll es Verbindungen zwischen diesen geben. Wohnen, Arbeiten, öffentlicher Raum und vor allem zusätzliches Grünland sollen sich dort wiederfinden.
Die Dimensionen sind gigantisch. Schöffauers Türme würden sogar die bisher höchsten der Welt in Dubai überragen. Sein Projekt ist gewagt, dessen ist sich Schöffauer bewusst. „Die Leute werden das selbstverständlich für Blödsinn halten. Das ist ja immer so, wenn man etwas Neues macht. Und die Verhindererfraktion in Wien ist stark. Aber da muss man durch. Es geht mir nicht darum, ein monströses Projekt zu entwerfen, sondern darum, wirkliche Zukunftslösungen anzubieten.“ Ob er sein Projekt in naher Zukunft verwirklicht sieht? „Man darf ja auch einmal träumen.“
Hoch, dicht, urban: Für viele ist das alternativlos. Stadtforscher Robert Temel sieht darin ein zentrales Thema für die Zukunft der Stadt. „Um weniger Boden zu verbrauchen, muss man dichter bauen“, sagt er.
Ganz anders sieht das Ingrid Krau. Die Münchner Architektin und Expertin für Städtebau fordert seit Langem weniger große und dichte Städte: „Hört endlich auf zu bauen!“ In Ihrem Buch „Corona und die Städte“ stellt sie Urbanität als Lebensform infrage – die Pandemie könnte ihr recht geben. Zwischen möglichst viele Menschen auf engstem Raum passen keine Babyelefanten.
Doch das Nachdenken über eine neue Form des Lebens auf dem Land hat lang vor Corona begonnen. So stellte der Architekt und Urbanist Rem Koolhaas bereits vor mehr als einem Jahr in einer Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum die Frage: Liegt die Zukunft auf dem Land?
Auch Stadtforscher Temel konstatiert dieser Tage so etwas wie Stadtflucht. Er glaubt aber, diese werde „die Urbanisierung insgesamt nicht gravierend infrage stellen. Außerdem sind die großen Städte in den letzten Jahren massiv gewachsen, also wäre ein kleiner Ausgleich und eine stärkere Orientierung auf ländliche Siedlungsformen ganz gut.“
Nicht jeder müsse auf dem Land wohnen und selbst Gemüse anbauen, erklärte Gundel Libardi am Beginn der Corona-Krise dem KURIER. Sie betreibt in Hasendorf in der Nähe von Wien eine Solidarische Landwirtschaft. Städte hätten nach der Krise wieder Vorteile zu bieten – wie Theater, Opern, Bars. Es ist ein Geben und ein Nehmen: Die Städter können sich mit den nachhaltig angebauten Lebensmitteln versorgen, die Landbewohner die Vorzüge der Stadt genießen.
Die große Verwaldung
Doch zurück zur Architektur: Entscheidend ist nicht nur wo, sondern auch wie gebaut wird: „Wien ist eine Stadt des Betonierens. Baumaterialien haben eine Schlüsselrolle im Klimaschutz. Wir müssten darauf hinarbeiten, möglichst alle neuen Gebäude aus Holz oder vergleichbaren Materialien zu bauen,“ sagt Temel. International sind alternative Baumaterialien längst State of the Art. Vor allem muss es grün sein. Großräumige Verwaldung ortete Ex-US-Präsident Donald Trump auch in Österreich mit seinem legendär gewordenen Forest-Citys-Sager. Etwas übertrieben, aber gar nicht so dumm. Denn seit die Sommer immer heißer werden, muss Architektur für Ausgleich sorgen.
In Düsseldorf hat Architekt Christoph Ingenhoven ein Shoppingcenter mit einem Wald überzogen.
Acht Kilometer Hainbuchenhecke oder anders ausgedrückt mehr als 30.000 Pflanzen: Europas größte Grünfassade ist vor Kurzem fertiggestellt worden. Sie ist Bestandteil des Geschäfts- und Bürogebäudes Kö-Bogen II. Man gebe eine mögliche Antwort auf den Klimawandel, ist auf der Homepage des Architekturbüros Ingenhoven zu lesen.
Amazons neue Firmenzentrale in Arlington, USA, gleicht einer riesigen Kräuterspirale.
Bäume stehen – wie bei so vielen Projekten – im Mittelpunkt der im Februar präsentierten Pläne für eine neue, zusätzliche Amazon-Zentrale in Arlington, USA. Entstehen soll ein Glaskegel, gesäumt von einem spiralförmigen Außenweg. Die-ser soll bepflanzt werden. Der Konzern will 2,5 Milliarden Euro investieren. In Seattle baute er „Spheres“ – große kugelförmige Wintergärten.
In Mailand sorgt der Bosco Verticale für Aufsehen – und enorme Kosten: 1.500 Euro müssen Mieter monatlich für den „vertikalen Wald“ an der Fassade ihres Wohnhauses springen lassen – zusätzlich zur Miete, berichtet das Magazin Brand eins. Die Gärtner müssen sich von oben abseilen, die Bäume sind im Windkanal getestet. Nachhaltigkeit sieht anders aus.
Der senkrechte Wald – Bosco Verticale – in Mailand wurde 2014 bezugsfertig. Die zwei begrünten Wohntürme sorgten für Aufsehen. Dem Projekt liegen die Überlegungen zugrunde, den Raum in der Stadt bestmöglich zu nutzen, ihn nicht weiter zu zersiedeln und die Biodiversität zu fördern. Der Architekt Stefano Boeri setzt weltweit Projekte wie dieses um, etwa in Paris oder Eindhoven. Seine Vision ist eine neue Stadt. Die Kombination von Umweltbewusstsein und Lebensqualität ist für Boeri laut Handelsblatt unabdingbar für die zukünftige Architektur.
Auch in der chinesischen 15-Millionen-Metropole Chengdu wurden begrünte Hochhäuser errichtet. Ein Vorzeigeprojekt sollte es werden, um das Smog-Problem in den Griff zu bekommen. Doch auf den Balkonen fühlten sich nicht nur 20 verschiedene Pflanzenarten wohl, sondern auch Insekten. So sehr, dass die Menschen, die die Wohnungen gekauft hatten, nicht einziehen wollten.
Die Waldstadt in der Millionenmetropole Chengdu wurde 2019 fertiggebaut. 826 Wohnungen in acht begrünten Hochhäusern sollten ein Öko-Paradies werden, das Lärm und Schmutz der Stadt absorbiert.
Für eine Ökologisierung braucht es nicht immer Megaprojekte. Vergleichsweise unspektakulär ist, was Stadtforscher Temel rät: „Verkehr reduzieren und so bauen, dass das auch möglich ist. Also verdichtet.“ Ein großes Thema ist dabei die sanfte Stadterneuerung. In den vergangenen 50 Jahren wurden in Wien fast alle Gründerzeit-Areale saniert. „Man muss aus der Stadt eine grün-graue Landschaft machen. Mehr Grünraum und weniger versiegelte Flächen. Dementsprechend auch weniger Flächen, die dem motorisierten Verkehr dienen“, sagt Temel.
Dazu kommen Klimawandelanpassungsprojekte wie die viel diskutierten coolen Straßen: „Sie können den Klimawandel nicht aufhalten, aber sie helfen dabei, dass die Änderungen durch den Klimawandel für die Menschen nicht ganz so unangenehm sind.“ Wesentlich ist, wie der öffentliche Raum in Zukunft genutzt werden kann. Vor allem freie Flächen in bereits dicht verbauten Gebieten lösen Diskussionen aus. In Wien kämpft eine Initiative darum, auf dem Areal des Westbahnhofs einen Park zu errichten. Er soll der Bevölkerung zum Durchatmen dienen. Manche befürchten, dass das Areal in bester innerstädtischer Lage zum Spekulationsobjekt werden könnte.
Der Ring ohne Autos
Für Architekturkritiker Christian Kühn ist die Klimadebatte auch Auslöser für die Frage, wem der öffentliche Raum gehört. „In ein paar Jahren wird die Ringstraße in weiten Teilen verkehrsfrei sein. In neu geplanten Stadtteilen müsste das noch leichter sein.“
Allerdings, schränkt er ein: „Es liegt eine gewisse Fantasielosigkeit in der momentanen Freiraumplanung.“
Auch wenn in Sachen Stadtvisionen noch Luft nach oben ist: Wer genau schaut, sieht jetzt schon viele Lebensräume für Fauna und Flora in der Stadt. Der Artenreichtum ist groß. Oft größer als in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten rund um die Städte. In den vergangenen Jahren wurden 600 Tierarten in mitteleuropäischen Städten gezählt.
Es klingt nach Waterworld, ist aber eine ernst gemeinte Vision. Die Architekten BIG-Bjarke Ingels Group präsentierten vor zwei Jahren die Oceanix City – entwickelt gemeinsam mit dem MIT, vorgestellt bei UN-Habitat, dem Wohnprogramm der Vereinten Nationen. Der Ausgangspunkt ist der steigende Meeresspiegel und die Tatsache, dass fast die Hälfte der Weltbevölkerung in Küstengebieten lebt. Die Stadt wird im Wasser errichtet. Ein künstliches Riff soll erschaffen werden. Ihre 10.000 Einwohner können sich selbst versorgen, etwa via Urban Farming. Das Konzept von Oceanix City beinhaltet pflanzliche Ernährung. Die benötigte Energie für die Siedlung könnten Sonne und Wellen liefern.
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