Wiener Mindestsicherung: Der Streit um die "soziale Hängematte"

Wiener Mindestsicherung: Der Streit um die "soziale Hängematte"
Gibt es den vieldiskutierten Zuzug in die Wiener Mindestsicherung? Und kann man die Sozialleistung wirklich kürzen? Ein Faktencheck.

Letztes soziales Netz oder doch gemütliche Hängematte? Seit Jahren stehen einander in Wien in Sachen Mindestsicherung zwei Fronten gegenüber. Jene, die die Sozialhilfe am liebsten radikal kürzen möchten. Und andere, die für die Notwendigkeit des "untersten sozialen Netzes" kämpfen.

Nun hat die Debatte wieder an Fahrt aufgenommen. Denn kürzlich wurde die Wiener Mindestsicherungsstatistik für das Jahr 2019 präsentiert. Der KURIER hat sich daher unter anderem angesehen, ob die Mindestsicherung tatsächlich Menschen nach Wien lockt. Und ob man bei der Sozialleistung nicht doch noch einsparen könnte.

Grundsätzlich sind die Nachrichten gut: Zum zweiten Mal in Folge hat die Zahl der Mindestsicherungsbezieher in der Stadt abgenommen – der KURIER berichtete. Im Vorjahr waren 135.698 Menschen auf die Sozialhilfe angewiesen (siehe Grafik). Vor allem der Anteil der Österreicher ist gesunken. Er beträgt laut Statistik 45 Prozent. 2018 waren es noch 46 Prozent, 2017 sogar 49 Prozent.

Wiener Mindestsicherung: Der Streit um die "soziale Hängematte"

Aber: Die Zahl der Drittstaatenangehörigen hat um 13 Prozent zugenommen. Ein Grund für ÖVP und FPÖ, den "Zuzug in die Wiener Mindestsicherung" anzuprangern.

Doch gibt es den wirklich?

Anonymität der Stadt

Fragt man Sozial- und Wirtschaftsexperten, sind sich diese in der Sache einig: Die Höhe der Mindestsicherung alleine ist kein Grund, nach Wien zu kommen. "Das hat auch soziologische Gründe. Die Anonymität ist in der Stadt größer", erklärt Martin Schenk, Armutsexperte der Diakonie Österreich. Und: Die Anträge werden hier schneller abgewickelt, es gibt auch mehr Unterstützung – etwa durch Sozialarbeiter.

Eine Rolle spiele jedoch, dass die Mindestsicherung in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich hoch ist, meint WIFO-Chef Christoph Badelt. Das kann Mindestsicherungsbezieher zu einem gewissen Grad motivieren, innerhalb Österreichs umzuziehen. Etwa von Niederösterreich, das 2019 die Sozialleistungen reduziert hat, nach Wien.

Weniger junge Bezieher
Um fünf Prozent auf 135.698 Menschen sank die Zahl der Bezieher 2019. Besonders stark ist der Rückgang mit 15 Prozent bei jungen Menschen. Heuer nimmt, für die Gruppe der 15 bis 24-Jährigen, sogar eine eigene Anlaufstelle namens "U25" ihre Arbeit auf.

Sozialhilfe neu gekippt
Die türkis-blaue Bundesregierung hat im Vorjahr die Mindestsicherung reformiert und eine neue – und geringere – Sozialhilfe eingeführt. Letztendlich wurde diese vom Verfassungsgerichtshof gekippt, unter anderem wegen verfassungswidriger Schlechterstellung von Mehrkindfamilien.

"Dass sich aus Syrien jemand auf den Weg macht, weil in Wien die Mindestsicherung besser ist, als in Niederösterreich, das glaube ich aber nicht", sagt Badelt.

Dazu kommt ein Aspekt, den Kritiker mitunter vergessen: Wien ist nicht das Bundesland mit der höchsten Mindestsicherung. Die Zahlen aus dem Jahr 2018 zeigen, dass Wien im Schnitt 648 Euro Mindestsicherung pro Bedarfsgemeinschaft (das ist zum Beispiel ein Haushalt mit einem Mindestsicherungsbezieher) und Monat bezahlte.

Vorarlberg zahlte am meisten

Vorarlberg hat mit durchschnittlich 813 Euro, Tirol mit 729 Euro und Niederösterreich (damals noch) mit 668 Euro höhere Summen geleistet. Der Grund für diese Unterschiede: die höhere Wohnbeihilfe, die aufgrund der höheren Lebenshaltungskosten im Westen ausbezahlt wird.

Die Anziehungskraft einer Stadt lässt sich also nicht nur auf die Höhe einer Sozialleistung reduzieren. Ballungsräume bieten etwa mehr Arbeitsplätze. Dass es in Wien mehr Drittstaatenangehörige in der Mindestsicherung gibt, könnte also auch daran liegen, dass Migranten hier auf einen Job hoffen – aber für jene Stellen, die in der Stadt verfügbar sind, nicht ausreichend qualifiziert sind. Und dann in die Mindestsicherung rutschen.

Fest steht also: Es gibt viele Gründe für Menschen, nach Wien zu ziehen.

"Kürzung kaum möglich"

Dennoch werden immer wieder Stimmen laut, die Leistungskürzungen fordern. Zur Erinnerung: Die damalige FPÖ-Sozialministerin Beate Hartinger-Klein hatte Anfang 2019 sogar gemeint, dass Menschen von 150 Euro im Monat leben könnten.

Im Jahr 2019 erhielt eine Bedarfsgemeinschaft in Wien im Schnitt 692 Euro. Ist das zu hoch? Laut Experten gibt es kaum mehr Spielraum nach unten. "Wenn wir diese Beträge senken, dann heißt das, dass diese Menschen in irgendeiner Weise in die Illegalität gedrängt werden", sagt Wirtschaftsexperte Badelt.

Sparen würde das System dadurch wohl ohnehin nicht wirklich. Denn eine Kürzung der Mindestsicherung könne ökonomische und soziale Folgekosten (etwa durch mehr Krankheiten) nach sich ziehen, sagt etwa Arbeitsmarktexpertin Gerlinde Titelbach vom Institut für Höhere Studien (IHS).

Wie also könnte eine zeitgemäße Sozialleistung aussehen? Experten wie WIFO-Chef Badelt könnten sich einen höheren Anteil an Sachleistungen (statt Geldleistungen) vorstellen. Damit könnten bundesländerspezifische Unterschiede noch besser ausgeglichen und das Missbrauchspotenzial verringert werden.

Was man in der Debatte ebenfalls noch berücksichtigen muss: Nur eine Minderheit bezieht überhaupt die volle Summe der Mindestsicherung. 74 Prozent der Bezieher in Wien waren 2019 sogenannte Aufstocker. Das heißt: Sie erhielten so wenig Gehalt, Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe, dass sie zusätzlich auf die Mindestsicherung angewiesen waren.

Dazu kommt, dass mehr als die Hälfte der Bezieher dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung steht – weil es sich um Kinder, Kranke oder Menschen mit Betreuungspflichten handelt.

Grundsätzlich braucht es also wohl eine Reform und eine Vereinheitlichung der Sozialleistungen in den Bundesländern. Das sehen Experten, SPÖ, Grüne und nicht zuletzt die Neos so.

Dem pinken Wiener Spitzenkandidat Christoph Wiederkehr schweben etwa ein Bürgergeld und Maßnahmen vor, die es attraktiver machen, einen Job anzunehmen. "Wir wollen die Zuverdienstgrenze nach oben setzen", sagt er. Letztendlich brauche es in Österreich auch eine neue Einwanderungsstrategie.

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