Wiener Geschichte: Die kleinen Häusln, die nicht wurscht sind
Es geht – wie sollte es in Wien anders sein – natürlich auch um die Wurst. Schließlich ist der Wiener Würstelstand eine Institution, ein Treffpunkt einheimischer Originale wie zahlreicher Touristen. (Reiseführer weisen sogar auf die Würstelstand-Etikette hin: mit den Händen essen, aber keinesfalls Mayo zur Wurst bestellen).
Der Würstelstand gehört aber auch zu den Kleinbauten in der Stadt, die so selbstverständlich für uns sind, dass wir sie kaum bewusst betrachten – wie etwa auch Wartehäuschen und öffentliche Toiletten.
Doch gerade diese kleinen Bauten erzählen viel über das Leben in der großen Stadt: Die Architekturhistorikerin Claudia Lingenhöl ging nun den Geschichten von mehr als 70 Wartehallen, Bedürfnisanstalten und Kiosken nach.
Im Wesentlichen entstanden diese Kleinbauten erst im 19. Jahrhundert. Im Zuge der Industrialisierung änderte sich das Alltagsleben in den Städten nämlich massiv: Die Bevölkerung Wiens wuchs auf mehr als zwei Millionen, es kam zur Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz, immer mehr öffentliche Verkehrsmittel fuhren durch die Stadt – es waren also deutlich mehr Menschen im öffentlichen Raum unterwegs.
Alte Häuschen abgerissen
„Man musste auf den Bus warten, man wollte Essen oder Tabak kaufen. Es entstand einfach der Bedarf nach diesen kleinen Zweckbauten“, erklärt Lingenhöl. Etwa nach Wartehäuschen: In Wien war man einst per Pferdeomnibus unterwegs. „Anfangs gab es keine fixen Haltestellen und somit auch keine Fahrgastunterstände“, sagt die Expertin. Als sich dann Stationen etablierten, wurden diese vorerst nur durch gusseiserne Standsäulen gekennzeichnet.
In den 1870er-Jahren entstanden dann erste Wartehäuschen, die Schutz vor der Witterung boten. Die damaligen Exemplare sind aber längst aus dem Stadtbild verschwunden: Im Zuge der Umstellung von Links- auf Rechtsverkehr 1938 wurden sie fast alle abgerissen.
Ein Imbiss wurde Kult
Die Menschen, die in der Stadt unterwegs waren, mussten freilich auch verköstigt werden. Da kam die rasch zuzubereitende Wurst wie gerufen – eine neue Imbisskultur entstand. „Anfangs waren die Würstelstände noch mobile Wägen“, erklärt Lingenhöl. Die ersten fixen Würstelstände, wie wir sie heute kennen, wurden erst in den 1960er-Jahren genehmigt.
Und auch ein weiteres Bedürfnis konnte nicht länger ignoriert werden: das nach genügend öffentlichen Toiletten. Bis ins 19. Jahrhundert waren in Wien nur sogenannte Abtrittanbieterinnen unterwegs: Sie boten einen Kübel an, in den man sich erleichtern konnte; als Sichtschutz diente bloß der weite Mantel der Abtrittanbieterin.
In den 1860er-Jahren wurden die ersten Pissoirs errichtet. „Der öffentliche Raum“, erklärt Lingenhöl, „war nämlich vor allem an die Bedürfnisse der Männer angepasst.“ Erst rund 20 Jahre später wurde die Genehmigung für den Betrieb einer „Bedürfnis-Anstalt für Personen beiderlei Geschlechts“ erteilt. Typisch waren damals Toilettenanlagen aus Eisen mit mehreren Kabinen, die sich ins Stadtbild fügen sollten.
Toilette-Artikel
Dennoch wurde in Zeitungsartikeln und mit Demonstrationen gegen die Anlagen protestiert. „Jeder wollte sie benutzen, aber keiner wollte sie vor der Haustüre haben“, so Lingenhöl. Im 20. Jahrhundert gerieten öffentliche Toiletten immer mehr als moralisch fragwürdige Anstalten in Verruf. In Folge wurden sie häufiger unterirdisch errichtet oder in Kioske oder Wartehallen integriert – wo man sie heute noch oft findet.
Stichwort Kiosk: Was hier verkauft wurde, spiegelt auch den Lebensstil der jeweiligen Epoche wider. In der frühen Neuzeit etwa kam Tabak als Genussmittel in Mode. In ganz Wien entstanden Tabak-Trafik-Kioske (vom Italienischen traffico bzw. vom Arabischen trafiq für „Handel“). Seit die Zahl der Raucher stetig sinkt, verschwinden Trafiken langsam aus dem Stadtbild. Und hier kommt wieder die Wurst ins Spiel: „In die Kioske, die leer wurden, zogen teils Würstelstände ein“, so Lingenhöl.
Wenig prägte das Stadtbild in jüngerer Zeit freilich so stark wie der Verkehr: Das Automobil eroberte ab den 1950er-Jahren praktisch alle Straßen Wiens, gleichzeitig wurden die Öffis stark ausgebaut. Als die zerstörten Straßenbahnstrecken nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut waren, entstanden große Mehrzweck-Wartehallen samt Ticketverkauf, Telefonzellen, Trafik und Kiosk, wie wir sie (in modernisierter Form) heute noch kennen.
Mittlerweile ist es für uns auch selbstverständlich, dass an den vielen Bus- und Straßenbahnhaltestellen Stahl-Glas-Aluminium-Wartehäuschen Schutz vor Wind und Wetter bieten. Mehr als 1.100 gibt es davon – doch wann haben wir sie zuletzt bewusst wahrgenommen?
Lingenhöl appelliert, die Kleinbauten nicht nur zu beachten, sondern auch zu erhalten: „Auch kleine Gebäude haben eine große Wirkung. Sie erzählen so viel darüber, wie wir leben und wo unsere Prioritäten liegen.“
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