Wie man Migrantinnen, die abgeschottet leben, aus der Isolation holen kann

Christine Scholten (li.) und Firdes Acar von der NGO "Nachbarinnen"
Mitarbeiterinnen der NGO „Nachbarinnen“ arbeiten täglich daran, Frauen bei der Integration zu unterstützen. Dem KURIER erzählten sie, wie das funktionieren kann und was sie bei ihrem Job erleben.
Wie man Migrantinnen, die abgeschottet leben, aus der Isolation holen kann

Kaum ein Thema sorgt so verlässlich für Aufregung wie Integration: Mehr Strenge fordern die einen, mehr Offenheit die anderen. Und viele scheuen sich, sich überhaupt zu Wort zu melden, etwa aus Angst, etwas politisch nicht Korrektes zu sagen.

Aber was erleben Menschen, die sich in ihrer täglichen Arbeit mit Integration befassen – abseits von Polemik und Stimmenfang?

Der KURIER sprach mit Christine Scholten und Firdes Acar: Die eine ist Österreicherin und Akademikerin, die andere kam aus der Türkei nach Wien und musste sich (gegen einige Widerstände in ihrer Familie) ein selbstbestimmtes Leben erst erkämpfen. 

Beide setzen sich in der NGO „Nachbarinnen“ seit rund zehn Jahren für die Integration von Frauen ein, die isoliert von der Gesellschaft leben: Sie helfen etwa, wenn diese Gewalt erfahren oder nicht arbeiten oder Deutsch lernen dürfen.

Scholten war viele Jahre als Kardiologin in ihrer Praxis in Wien-Favoriten tätig, also in einem Bezirk mit hohem Migrantenanteil. „Dort habe ich bemerkt, dass ich an die Frauen nicht herankomme. Die Söhne und Väter haben über die Töchter und Mütter geredet. Ich wollte aber direkt mit den Frauen reden – nicht über sie“, erzählt sie.

"Von oben verordnet funktioniert Integration nicht"

Daher begann sie, Türkisch zu lernen. Den Menschen mit Offenheit und Interesse zu begegnen, habe viel bewirkt: „Dadurch ist auch auf der anderen Seite eine Öffnung passiert.“ Das ihrer Erfahrung nach Wichtigste sei daher: reden, reden, reden. 

Dazu müsse man freilich nicht gleich Türkisch lernen – es gehe schlicht um respektvolles Aufeinander-Zugehen. „Denn von oben verordnet funktioniert Integration nicht“, sagt Scholten. 

Aber als Akademikerin und „große, weiße Frau“, sagt die Ärztin, „war mir klar, dass ich der Inbegriff der westlichen Kultur bin. Und dass ich gerade von den zugewanderten Männern als Bedrohung wahrgenommen werden könnte“.

Firdes Acar musste sich ihre Freiheiten erst erkämpfen

Hier kommen daher Mitarbeiterinnen wie Firdes Acar ins Spiel: Als Acar nach Wien kam, war sie erst 14, schwanger, und sie sprach kein Deutsch. Sie musste mit neun Menschen in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung leben und litt unter ihrer Schwiegermutter, die für sie nur einen Job als Putzkraft vorgesehen hatte. Doch Acar setzte sich durch, lernte Deutsch und arbeitete lange in einem Seniorenheim.

Die Geschichte: Gegründet wurden die „Nachbarinnen“ 2013 von der Ärztin Christine Scholten und der Sozialarbeiterin Renate Schnee.
Elf Sozialassistentinnen unterstützen Menschen, die isoliert von der Gesellschaft leben, bei der Integration. 

400 Familien werden im Schnitt pro Jahr betreut.

Die Methode: Die „Nachbarinnen“ sprechen Türkisch, Arabisch, Dari/Farsi, Tschetschenisch und Somali. Sie besuchen zu Hause, begleiten zum Amt oder zum Arzt.  Finanziert wird die NGO zur Hälfte aus Spenden, zur Hälfte aus öffentlicher Hand und durch Einkünfte der eigenen Nähwerkstatt.

Infos: www.nachbarinnen.at

 

Mittlerweile ist Acar hauptberuflich Sozialassistentin bei den „Nachbarinnen“. Die Familien, die sie betreut, werden etwa vom Kinder- und Jugendamt vermittelt. Vieles, was die Frauen erleben, kennt Acar aus eigener Erfahrung: familiären Druck, Probleme in der Ehe, Angst, Einsamkeit. Sie spreche dieselbe Sprache, habe denselben Hintergrund, kommuniziere auf Augenhöhe: das schaffe Vertrauen.

Die Frauen lernen ihre Rechte und Möglichkeiten kennen

Die „Nachbarinnen“ klären die Frauen über ihre Rechte und Möglichkeiten auf. „Die Frauen lernen, dass sie ein Konto eröffnen oder ein Arbeitstraining besuchen können. Es sind kleine, aber wichtige Schritte“, beschreibt Scholten. 

Man habe auch schon Männer in den Familien überzeugt, ein Anti-Gewalt-Training oder eine Therapie gegen Spielsucht zu besuchen. „Oft wird ihnen erst in Gesprächen mit einer außenstehenden Person wie mir klar, dass sie ihrer Familie mit ihrem Verhalten schaden“, beschreibt Acar.

Auch heikle Themen ansprechen

Miteinander zu reden sei jedenfalls das Um und Auf, betont Scholten. Auch über heikle Themen: „Wenn zum Beispiel ein Syrer einer Lehrerin nicht die Hand geben möchte, können wir mit ihm darüber sprechen, warum das bei uns üblich ist. So können wir erreichen, dass er über seinen Schatten springt.“

Auch Vorbilder sind wichtig

Wichtig seien außerdem Vorbilder: Acar wurde durch ihre Freundschaft mit Scholten ermutigt. „Ich habe gemerkt: Sie ist Österreicherin und sie mag mich. Wir können gemeinsam lachen und weinen“, erzählt sie. „Und dann habe ich gesagt: Wenn unsere Ärztin Türkisch lernt, dann müssen wir Deutsch lernen.“

Nun möchte sie selbst ein Vorbild sein: „Heute sitze ich beim Elternsprechtag in der ersten Reihe. Ich will zeigen, dass wir dazugehören.“

"Wir brauchen Einwanderung"

Außerdem, ergänzt Scholten, führe an Integration gar kein Weg vorbei: „Wir bauchen Einwanderung. Unsere Gesellschaft überaltert und wir benötigen Arbeitskräfte.“ Studien würden außerdem zeigen, dass Zugewanderte nach zehn Jahren bereits mehr ins System einzahlen, als sie zuvor gekostet haben.

Nun müsste man nur noch eine offene, gemeinsame Gesprächsbasis finden: „Ich will sagen können: ,Heast, benimm Dich nicht so deppert’ – zu einem Österreicher wie zu einem Tschetschenen“, sagt Scholten und lacht.