Warum Sterben wieder ein Fall für den Höchstrichter ist
Vier Antragstellern sind die geltenden Regeln zu streng. Unter ihnen ist die schwerkranke Nikola Göttling, die Hilfe bei dem letzten Weg einfordert. Speziell bei kirchlichen Vertretern ist das ein Tabu.
Die Wienerin Nikola Göttling hat eine konkrete Angst – den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. In ihrem Fall bedeutet das: Den Zeitpunkt, zu dem die schwerkranke Neuropsychologin (gerade noch) fähig ist, die Infusion aufzudrehen, an der sie sterben wird.
Verpasst sie ihn, wird sie bis zu ihrem Tod in ihrem gelähmten Körper eingesperrt sein. Denn niemand darf ihr beim Sterben helfen. Aktive Sterbehilfe ist in Österreich verboten.
Seit 1. Jänner 2022 ist die Beihilfe zum Suizid in Österreich nicht mehr strafbar. Zuvor hatte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) entschieden, dass jeder Mensch „ein Recht auf menschenwürdiges Sterben“ hat. Allerdings muss die sterbewillige Person zahlreiche Voraussetzungen erfüllen. Die wichtigste: Sie muss das tödliche Präparat selbst zu sich nehmen können.
„Solange es möglich ist“
Das ist nur ein Punkt, der knapp 1,5 Jahre später erneut die Höchstrichter beschäftigt. Vor wenigen Tagen langte ein neuer Individualantrag beim Verfassungsgerichtshof ein, um eine Gesetzesänderung zu bewirken. Und diesmal geht es um die aktive Sterbehilfe. Bisher ein absolutes Tabu, vor dem in erster Linie kirchliche Vertreter gewarnt hatten.
Es sind vier Antragsteller, die sich an den VfGH wenden. Darunter auch Nikola Göttling. Die Wienerin leidet an sekundär progredienter Multipler Sklerose. Chance auf Heilung oder Besserung gibt es nicht. „Ich habe bereits körperlich sehr abgebaut“, schildert sie. „Meine Beine sind gelähmt, meine Arm sind schwach. Und sie werden immer schwächer. Früher oder später werde ich gar nichts mehr tun können.“
Göttling will leben, sagt sie. „Solange es möglich ist.“ Doch der Verlauf ihrer Krankheit lässt sich nicht vorhersagen. Es ist unklar, wie lange sie noch in der Lage sein wird, das letale Präparat selbstständig einnehmen zu können.
„Das bedeutet großen Stress für mich. Wäre es möglich, dass mir jemand anderer beim Sterben hilft, wäre das in meinem Fall lebensverlängernd“, beschreibt sie. Denn das aktuelle Gesetz zwinge sie, den Schritt früher zu machen. Freunde, aber auch ein Arzt hätten ihr bereits Hilfe zugesagt. Nachsatz von Göttling: „Wenn es nicht verboten wäre ...“
Enge Gesetzeslage
Das betont auch der Wiener Rechtsanwalt Wolfram Proksch, der schon den ersten Individualantrag an den VfGH gestellt hatte. Die geltenden Regelungen würden Betroffene dazu zwingen, einen Suizid zu einem Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sie noch ohne fremde Hilfe eines dazu bereiten Dritten in der Lage wären.
Doch nicht nur Göttling und Proksch ist die aktuelle Gesetzeslage zu eng gefasst. Auch der Wiener Arzt Marco Hoffmann ist unter den Antragstellern. Er betont, dass es ihm nicht möglich ist, eine umfassende Beratung und Unterstützung in Sachen Sterbehilfe durchzuführen. Allein mit einer Empfehlung für einen anderen Arzt, an den sich die sterbewillige Person wenden kann, könnte er das Werbeverbot verletzen.
Diese strenge Regelung bringt auch die „Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende" (ÖGHL) vor. „Uns erreichen viele Anfragen von Hilfesuchenden, die sich im Gesetz nicht zurechtfinden. Wir würden als Vereine gerne helfen, dürfen aber nicht“, sagt Ärztin Isolde Lernbass-Wutzl vom ÖGHL-Präsidium.
Wartefristen
Zudem sehen die Antragsteller weitere erhebliche Mängel beim geltenden Sterbeverfügungsgesetz. Zum einen wären die Wartefristen zu lang. Die beträgt nach Errichtung der Sterbeverfügung zwölf Wochen, bei der Attestierung eines „unerträglichen Leidens“ immerhin zwei. Dadurch, so die Antragsteller, würde man Betroffene der Gefahr aussetzen, dann zur Vornahme einer Selbsttötung nicht mehr in der Lage zu sein oder aus Verzweiflung eine andere Art des Suizids mit verbundenen Risiken durchzuführen.
Beihilfe zum Suizid
Der Patient entscheidet über sein Lebensende und führt den letzten Akt selbst aus. In Österreich unter gewissen Voraussetzungen erlaubt.
Aktive Sterbehilfe
Der Sterbewillige fordert dazu auf, sein Leben zu beenden. Etwa durch die Injektion eines letalen Medikaments. In Spanien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg erlaubt.
Suizidbegleitung
Der Betroffene steht in Kontakt mit einer Organisation, die Suizidhilfe anbietet, und nimmt einen gut vorbereiteten, wohl überlegten Suizid vor. Er wird dabei von Ärzten oder Mitarbeitern der Organisation begleitet – gibt es u. a. in der Schweiz.
"Gewissensgründe"
Gleichzeitig ist eine eingerichtete Sterbeverfügung nur ein Jahr gültig – eine Erneuerung kostet Geld.
Weitere Kritikpunkte: Kranken- und Pflegeanstalten müssen ihre Patienten weder über die Möglichkeiten von Sterbehilfe aufklären, noch Hilfestellung leisten. Ärzte dürfen diese Hilfe und auch die Aufklärung sogar aus „Gewissensgründen“ ablehnen.
Im Jahr 2022 wurden 111 Sterbeverfügungen registriert. Die Zahl jener Personen, die das letale Präparat tatsächlich zu sich genommen hat, ist allerdings deutlich niedriger.
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