Das unterschätzte Risiko bei Lawinenwarnstufe 3
Ein scheinbar traumhafter Tiefschneehang liegt abseits der gesicherten Piste vor einer sechsköpfigen Gruppe, die mit dem Lift auf den Gaislachkogel oberhalb von Sölden gekommen ist. Ein Stück weiter entfernt haben bereits Variantenfahrer ihre Spuren gezogen. Trotz "erheblicher" Lawinengefahr (Warnstufe 3) fahren die jungen US-Amerikaner in den verlockenden Hang ein. Ein riesiges Schneebrett löst sich und reißt Bryce Astle (19) und Ronnie Berlack (20) in den Tod. Für die beiden Nachwuchsfahrer des US-Skiteams, die bis zu vier Meter tief verschüttet werden, kommt jede Hilfe zu spät.
Das tragische Unglück am Montag reiht sich in eine Serie von Lawinenunfällen ein, die sich heuer bereits ereignet haben. Immer wieder haben dabei von Skipisten kommende Sportler Schneemassen im freien Gelände ausgelöst. In Tirol gilt seit zwei Wochen "erhebliche" Lawinengefahr, die bereits sechs Menschenleben gefordert hat. Rudi Mair vom Lawinenwarndienst Tirol spricht von einem "katastrophalen" Schneedeckenaufbau. Die Warnstufe 4 der fünfteiligen Skala, die "große" Gefahr bedeutet, hat er heuer aber erst an einem einzigen Tag ausgerufen.
Nur um Wintersportler abzuschrecken, könne er das auch nicht tun, erklärt Mair: "Man kann und darf die Gefahrenstufen nicht als Warnsignal missbrauchen." Die Kriterien des europaweit gültigen Systems sind vorgegeben. "Bei Stufe 4 reden wir von Lawinengrößen, die auch Siedlungsgebiet oder Straßen gefährden", macht Mair klar, dass die Skala nicht nur auf Wintersportler abzielt. "Es geht um die öffentliche Sicherheit", erklärt der Tiroler.
Das Warnsystem ist eben auch Leitschnur für Katastrophenmanagement. Mair erinnert an den schneereichen Winter 2012, als in Tirol Warnstufe 4 ausgerufen wurde: "Damals sind große Lawinen auf Straßen abgegangen. Das ganze Paznauntal war gesperrt. Und es standen bereits Black-Hawk-Hubschrauber für Evakuierungen in Tirol bereit. Das ist ein anderes Gefahrenpotenzial."
Schärfere Begriffe
Trotzdem hat auch Mair keine Freude mit den Begrifflichkeiten der Warnskala. Die "erhebliche" Gefahr der Warnstufe 3 bedeute zwar, dass Leute ohne Kenntnisse der Lawinenkunde abseits der Pisten nichts mehr verloren hätten. "Aber ich habe 2009, als die internationale Tagung der Lawinenwarndienste in Tirol stattgefunden hat, einen Anlauf für schärfere Bezeichnungen der Stufen gemacht", erzählt Mair. Sein Vorschlag: Warnstufe 3 von "erheblich" in "groß" umzubenennen, "groß" (4) in "sehr groß" und "sehr groß" (5) in "extrem". Für die Umbenennung gab es jedoch keine Mehrheit unter den Profis.
Aber Sicherheitsexperten wie Peter Veider, Chef der Tiroler Bergretter, sind zunehmend skeptisch, ob Variantenfahrer mit noch mehr Warnungen überhaupt zu erreichen sind: "Die sind wie eine Herde wilder Pferde, die nur schwer zu zähmen sind."
Für Estolf Müller, Chef der Salzburger Bergrettung, stehen auch die Hoteliers in der Verantwortung, ihre Gäste auf die Gefahren der weißen Verlockung aufmerksam zu machen: "Sie sind am nächsten am ausländischen Gast dran und können mit einem guten Rat etwas bewirken."
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