Die Entstehung des "Grimm-Sounds"
So ist es dann auch nur logisch, dass Redewendungen und geflügelte Worte aus Märchen mit der Zeit in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen – und dort geblieben sind. Hänsel und Gretel etwa finden den Weg aus dem dunklen Wald mithilfe von Brotkrumen, die sie zuvor ausgestreut hatten. So wie auch heute noch beim sogenannten „Breadcrumbing“ eine liebeshungriger Mensch der Spur metaphorischer Brotkrümel folgt, die ihr oder ihm ein nur mäßig interessierter Dating-Partner zuwirft.
Ob die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm den nachhaltigen Erfolg ihrer 1812 erstmals erschienenen „Kinder- und Hausmärchen“ ahnen konnten, sei dahingestellt. Fest steht, dass die Sprachwissenschafter es sich zur Aufgabe gemacht hatten, alte, meist mündlich überlieferte Volksmärchen zu sammeln – und natürlich vor der Veröffentlichung zu überarbeiten und zu glätten.
So entsteht das, was Essig den „Grimm-Sound“ nennt: Redewendungen und Sprachbilder, die fast wie Poesie klingen. Etwa „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, „Spieglein, Spieglein an der Wand“ oder „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. Geflügelte Worte, die auch heute noch eigenständig und losgelöst vom Märchen im passenden Kontext gerne verwendet werden. Andere Sprüche blieben erst durch ihren Einsatz im Märchen in Erinnerung und eröffnen tatsächlich den Blick zurück in längst vergangene Sprachwelten.
Märchen sind ein Kulturschatz
„Die Sprüche sind in den wenigsten Fällen von den Grimms erfunden“, sagt der Autor. „Sie sammelten als Sprachhistoriker ja auch Redensarten und schöpften aus diesen Sammlungen. Die sind teils sehr viel älter als die aufgeschriebenen Märchen.“
So zum Beispiel die Redensart „mit Haut und Haar“, die gleich in mehreren Märchen vorkommt. Sie findet sich als Rechtsformel bereits in mittelalterlichen Rechtsbüchern wie dem „Sachsenspiegel“ und beschreibt eine körperliche Bestrafung: das Schlagen der Haut mit einer Rute und das Scheren der Haare.
Sie wird aber auch mit Gier in Verbindung gebracht und kommt so auch in „Der Wolf und die sieben Geißlein“ in der Warnung der Mutterziege vor dem gefräßigen Raubtier zum Einsatz. „Es war den Grimms wichtig, die Märchen als eine Art von Kulturschatz zu präsentieren. Sie wollten damit die Geschichten, aber auch die Sprache aus alter Zeit bewahren. Denn schon damals war diese Art zu sprechen altmodisch“, erklärt Essig.
"Ein Gespräch über Jahrhunderte"
Unbedingt sollten Kinder auch weiterhin mit der Welt der Märchen aufwachsen, meint Essig. Zum einen, weil dadurch eine Tradition erhalten bleibe, die Generationen umspanne. „Das ist ja ein Gespräch über viele Jahrhunderte, es wäre doch schön, wenn das weiterginge“, sagt er. Zum anderen für die Auseinandersetzung mit den Urgefühlen, die uns Menschen ausmachen und miteinander verbinden. „Außerdem kann man nirgends Gefahr und Abenteuer so gefahrlos begegnen wie in einem Buch“.
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Welche ist eigentlich seine liebste Redewendung aus einem Märchen? „Ein Spruch aus den ,Bremer Stadtmusikanten‘: ,Etwas Besseres als den Tod findest du überall‘. So eine einfache Aussage – und so wichtig.“ Und, wie Essig betont, sei der Esel „der Einzige, der das kapiert“.
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