Zwischen Dirndln in allen Farbschattierungen führt die Steintreppe ein Stockwerk tiefer – in die ehemaligen Stallungen des 600 Jahre alten Melker Stiftshofs. Die nächsttiefere Etage entdeckte Unternehmerin Gexi Tostmann bei Renovierungsarbeiten nur zufällig – einem auffällig lockeren Ziegel sei dank. Mit Erlaubnis der benediktinischen Hausherren wurde die Mauer durchbrochen und ein Netz von Gängen und Kellern freigelegt. Der Legende nach führt von hier unten gar ein Geheimweg unterirdisch bis zum Stephansdom. Einst soll sich hier unten nämlich, so erzählt man sich, ein Lehrmädchen der Tostmanns verirrt haben, und beim Dom wieder „aufgetaucht“ sein.
Die Forschung über die Wiener Keller gestaltet sich jedenfalls alles andere als einfach, weiß Lukacs aus eigener Erfahrung. „Es gibt keine Aufzeichnungen darüber. Sie waren immer schon ein Versteck, für einen selbst, für seine Waren und Eigentum. Da wollte man gar nicht, dass andere so genau wissen, wie es unterirdisch ausschaut.“
Aber die Spuren der Zeit lassen sich hier unten besonders gut lesen. Alleine in einem unterirdischen Abschnitt der alten Stadtmauer finden sich Steine unterschiedlichster Epochen, selbst römische Steinquader sind zu entdecken. „Alle, die hier siedelten, bauten auf dem Schutt der ihrer Vorgänger“, sagt Lukacs. Das erklärt auch die über die Jahrhunderte unterschiedlichen Straßenniveaus. Einmal findet sich die Gruppe etwa 17 Meter unter dem heutigem Straßenniveau auf der Ebene des ehemaligen Legionslagers Vindobona. Hier, im Keller des Delikatessengeschäfts Porta Dextra stehen noch originale Eckpfeiler des namensgebenden rechten römischen Stadttors. Es geht also wieder hinab. Ein Stockwerk, zwei, drei, schnell verliert man die Orientierung. „Wie tief sind wir jetzt?“, fragt Lukacs in die Runde. Drei Stockwerke tief, lautet der Konsens. Es sind vier. „Ursprünglich waren es sogar fünf, aber unter uns fährt jetzt die U-Bahn.“
Seltsam deplatziert steht eine dicke Marmorsäule im Raum. Sie gehört zu den sogenannten Josephinischen Säulen, die entlang der heutigen Rotenturmstraße in zahlreichen Kellern standen. 1711 sollte nämlich die frisch gegossene Pummerin an ihren Platz im Südturm des Steffl gebracht werden. Einziges Problem: der wie ein Emmentaler durchlöcherte Wiener Untergrund, dessen Gewölbe der über 22.000 Kilo schweren Glocke nicht standgehalten hätten. Daher ließ Kaiser Joseph I. unterirdische Pfeiler errichten, um den Transportweg zu stabilisieren.
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Gefängnis unter der Stadt
Am Hohen Markt befindet sich die letzte Station der Führung. Diesmal geht es in den Keller des Wellness Concept Stores Herbarium Officinale. „Der Hohe Markt war die Hinrichtungsstätte im Alten Wien“, erklärt Lukacs. „Da wurden die Menschen gehängt, geköpft, gevierteilt und sonst allerhand Grausliches.“ In den verschachtelten Räumen unter dem Hohen Markt befanden sich die Zellen, in denen die Verurteilten auf die Vollstreckung ihres Urteils warten mussten. „Die Mauern speichern das“, ist Lukacs überzeugt. Da ist man fast froh, wieder Tageslicht zu erblicken.
Gabriele Lukacs zählt die Gruppe wieder durch. Es fehlen vier. Sie sind wohl im Geschäft hängen geblieben. Oder – wer weiß – vielleicht haben sie den geheimen Tunnel zum Stephansdom gefunden.
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