"Recht ist ständig gebeugt worden"

Das ehemalige Heim St. Martin in Schwaz: Mädchen mussten dort – oft kaum oder gar nicht bezahlt – in der Wäscherei oder für externe Firmen arbeiten.
Der Historiker Horst Schreiber über die Fehler in der Aufarbeitung des Kinderheimskandals in Tirol.

Der Innsbrucker Sozialhistoriker Horst Schreiber arbeitete als Erster die Geschichte der Tiroler Kinderheime wissenschaftlich auf. Im KURIER-Interview übt er heftige Kritik am Umgang der Politik mit den Betroffenen.

KURIER: Sie werfen dem Land Tirol "gelebte Heuchelei" im Umgang mit ehemaligen Heimkindern vor. Was meinen Sie damit?

Horst Schreiber: Das Land und die zuständige Landesrätin berufen sich ständig auf das Recht, um damit die jetzige Position des Landes gegen die Interessen der Heimkinder zu untermauern. Dabei ist das Recht in der Vergangenheit gegenüber den Heimkindern ständig gebeugt worden.

Inwiefern wurde Recht gebeugt?

Schon in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es strikteste Anweisungen des Landes, in den Erziehungseinrichtungen keine Form von Gewalt anzuwenden. Wir wissen ja, wie es in Wirklichkeit abgelaufen ist... Das Land hat dann ständig verhindert, dass Heimkinder zu ihrem Recht kommen. Im Jugendwohlfahrtgesetz 1955 steht zum Beispiel, dass die Kinder zu ihrer Ausbildung kommen sollen und für eine gedeihliche Zukunft gesorgt werden soll.

"Recht ist ständig gebeugt worden"
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Die Ausbildung gab es nicht.

Nur ein geringer Prozentsatz der Heimkinder hat eine Ausbildung bekommen. Es ist merkwürdig von einer Feministin wie Landesrätin Baur: Da wurde Mädchen die Ausbildung verwehrt, teilweise Geld nicht ausbezahlt, sie waren nicht sozialversichert und das kümmert die Landesrätin nicht?

Das Land hat das Thema bereits aufgearbeitet.

Es gab eine Studie zu Arbeit in Heimen. Arbeiten galt damals als pädagogische Maßnahme. Und in dem Bericht, der 2013 präsentiert wurde, haben genau jene Stellen aus den Landeskontrollamtsberichten gefehlt, die die Argumentation der Ex-Zöglinge unterstrichen haben.

Welche Berichte waren das?

Es waren Landeskontrollamtsberichte aus den 1960er-Jahren und aus dem Jahr 1977. Noch in den 60ern gab es Kritik, dass Gelder, die den Heimkindern zugestanden wären, von der Heimleitung zurückgehalten worden sind. Zwei Drittel des Lohnes der Heimkinder hat das Land Tirol einbehalten; der Rest wäre ihnen zugestanden. Aber dieses Geld haben nicht alle bekommen. Das Land hat die Aussagen der eigenen Kontrollberichte ausgelassen oder untergewichtet.

Die Missstände waren also amtlich bekannt...

Und dann beruft sich Baur auf damaliges Recht! Kinder konnten nicht vor Gericht ziehen. Der beste Beweis ist der Fall der Erzieherin Brigitte Wanker, die 1980 Missstände aufdecken wollte und dafür aus dem Land gemobbt worden ist. Selbst wenn über die Zustände in den Heimen etwas herausgekommen ist, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um eine öffentliche Debatte zu verhindern.

Das Land pocht darauf, dass die meisten Fälle verjährt seien.

Heimkinder konnten die eigenen Akten nicht einsehen. Das Land hat also aktiv dazu beigetragen, dass es zu einer Verjährung der Taten kam. Die Opferschutzkommission hat dem Land Tirol 2010 empfohlen, wenigstens bei schweren Fällen bei Gericht auf die Verjährung zu verzichten. Das Land hat sich dazu bekannt. Und dann sagt die Landesrätin vier Jahre später, dass das man sich auf Verjährung beruft. Dann gehen sie her, mit ihrem Arbeit-in-Heimen-Bericht, und sagen, dass eh alles in Ordnung war. Aber es gibt genug Indizien, dass Geld an Heimkinder teilweise nicht ausbezahlt wurde. Das Land Tirol hat die Heimstudie selber gemacht, mit dem stellvertretenden Landesamtsdirektor Dietmar Schennach, der sich damit quasi selbst überprüft hat.

Das alles klingt nach Rückschritt.

Ja. Die Studie "Arbeit im Heim", die das Land Tirol selber gemacht hat, geht von der Aussage her hinter alle Studien zurück, die seit 2010 gemacht worden sind. Ein weiterer unerklärlicher Rückschritt: Im Land Tirol, das sich wie alle Länder in Österreich dem Entschädigungsmodell der Klasnic-Kommission (5000, 15.000 oder 25.000 Euro, Anm.) angeschlossen hat, speist Heimkinder seit einiger Zeit mit 1000 oder 2000 Euro ab.

Um wie viele handelt es sich?

Mir sind 63 Fälle bekannt. Dieses Sparen bei den wirklich Betroffenen, muss mir die Soziallandesrätin einmal erklären...

Wie könnte man den Betroffenen helfen?

2010 hat Sozialminister Hundstorfer zur fehlenden Sozialversicherung der Heimkinder gesagt, dass es unbestritten sei, dass diese ausbezahlt hätte werden müssen. Und dass man nachträglich die verlorenen Pensionsversicherungszeiten nachkaufen kann. Das Land Tirol, für das die Heimkinder ja gearbeitet haben, könnte das doch machen.

Hier hat sich das Land aber noch keinen Millimeter bewegt.

Von 2010 bis jetzt ist diesbezüglich nichts geschehen. Dadurch, dass nur Leute in den Genuss kommen können, die nicht bereits in Pension sind, fallen immer mehr Leute um die Nachzahlung um. Nach den KURIER-Berichten im Sommer 2012 hat das Land eilig eine Kommission gegründet, die 2013 den Bericht zur Arbeit in Heimen herausgegeben hat. Und sogar bei denjenigen, mit denen sie für den Bericht gesprochen haben, die ihnen also bekannt sind, haben sie die Pensionszeiten nicht nachgekauft.

Beste Freunde dürften Landesrätin Baur und Sie nicht mehr werden...

Für die Landesrätin sind Betroffenheit und Versöhnung die Schlagworte. Aber wenn Leute, die nur 1000 oder 2000 Euro kriegen, Rekurs gegen die Entscheidung einlegen und sich beschweren, wird diese Person nicht einmal zu einem Gespräch eingeladen, sondern bekommt vom Land Tirol ein Schreiben, dass es "keine neue Erkenntnis" gäbe. Dieses Phänomen scheint es auch in Vorarlberg zu geben.

Ihr Wunsch an die Politik?

Das Land Tirol, allen voran die zuständige Landesrätin, sollte jetzt endlich die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die auf dem Tisch liegen, umsetzen.

„Mit diesem Vorwurf lebe ich jetzt schon länger. Ich kann zu dem stehen, was ich tue“, meint die Tiroler Soziallandesrätin Christine Baur (Die Grünen) zu Horst Schreibers Vorwurf der Heuchelei.

Keine Nachzahlung Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für Kinder, die in Heimen gearbeitet haben, kommen für Bauer nicht in Frage. „Rechtlich ist es so, dass diese Arbeit, die in Heimen geleistet wurde, keine sozialversicherungspflichtigen Dienstverhältnisse waren.“ Man habe den Heimkindern also nichts vorenthalten.

Gegen eine „Sonderstellung von Heimkindern“ in Gerichtsverfahren spricht sich die gelernte Juristin ebenfalls aus. Dem Land Tirol stehe es einfach zu, sich auf die Verjährung zu berufen. Zudem habe „die Opferschutzkommission meines Wissens nach nie empfohlen, dass auf die Verjährungsfrist allgemein verzichtet werden soll.“

Geringe Entschädigung Zu Schreibers Kritik, dass die Entschädigungszahlungen für ehemalige Heimkinder seit geraumer Zeit sehr gering ausfallen, erklärt Landesrätin Baur: „Die unabhängige Opferschutzkommission hat sich nicht verändert, seit sie eingerichtet wurde. Auch die Richtlinien haben sich nicht verändert. Wenn es so ist, dass in letzter Zeit kleinere Beträge ausbezahlt worden sind, dann deshalb, weil es wahrscheinlich auch andere Fälle waren.“

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