Die Landesverräterin
Sie deckte auf, dass Kinder in einer kirchlichen Behinderteneinrichtung in Tirol schwer misshandelt wurden. Dafür musste Brigitte Wanker allerdings bitter büßen. Das System schlug mit einer Wucht zurück, mit der sie nicht gerechnet hatte. Sie wollte Missstände aufzeigen und wurde als Nestbeschmutzerin bezichtigt und gezwungen, ihr Heimatland Tirol zu verlassen. Jetzt, 33 Jahre später, soll sie geehrt werden.
1980 nahm die gelernte Weberin Wanker, damals 22 Jahre alt, eine Stelle im St. Josephs Institut, geführt vom Orden der Barmherzigen Schwestern in Mils in Tirol an. Ihre Schilderungen über die brutalen Misshandlungen behinderter Kinder durch die Klosterschwestern sind erschütternd (siehe Zusatzbericht unten).
„Verbrennen“
Wanker wusste, so kann man Kinder nicht behandeln. Verzweifelt suchte sie jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. „Ich habe mein Tagebuch genommen und bin damit zum Leiter des Innsbrucker Jugendamtes gegangen“, sagt Wanker. Der Herr Rat wollte von den Missständen freilich nichts wissen. „Er hat mich aufgefordert, das Tagebuch zu verbrennen.“ Sie sei zu sensibel für den Beruf und solle kündigen, waren die Ratschläge, die ihr der Amtsleiter mit auf den Weg gab.
„Ich bin da raus und hab die Welt nicht mehr verstanden. Ich hatte mir wirklich Hilfe erwartet. Ich war ja so naiv.“ Und allen, die heute noch sagen, man hätte von den Zuständen in Heimen nichts geahnt, sagt sie: „Der Jugendamtsleiter hat von den furchtbaren Zuständen in dem Heim gewusst. Dem war klar, was los ist.“
TV-Bericht
Allmählich reifte in Wanker der Entschluss, die Öffentlichkeit über die brutalen Misshandlungen im St. Josephs Institut aufzuklären. Sie wandte sich gemeinsam mit einer Kollegin an den ORF. Die Journalisten Claus Gatterer und Kurt Langbein begannen zu recherchieren und drehten eine schockierende Reportage über die Zustände in Tiroler Kinderheimen. Als ihr klar wurde, dass die beiden tatsächlich einen Bericht für die Sendung Teleobjektiv machen, kündigte sie nach nur fünf Monaten in Mils und nahm eine Stelle als Helferin in einem alternativen Kindergarten an.
Als die kritische Reportage der beiden Journalisten im September 1980 ausgestrahlt wird, kommt es zu einer beispiellosen Hetzjagd.
Das Schicksal trifft Wanker am härtesten. „Nach der Sendung war ich das Feindbild Nummer 1.“ In Zeitungen und Leserbriefen ist sie als „Nestbeschmutzerin“ und „Lügnerin“ denunziert worden.
„Durch die damals äußerst enge Verbindung zwischen Landespolitik und katholischer Kirchenführung war es möglich, einen derart großen Druck aufzubauen, dem sich schlussendlich auch die Medien weitgehend beugten“, analysiert der Tiroler Historiker Horst Schreiber auf seiner Internet-Plattform www.heimerziehung.at.
Der hochdekorierte Landeshauptmann-Stellvertreter Fritz Prior (ÖVP) hat die Skandal-Aufdeckerin in sein Büro zitiert. „Das war das Ärgste“, sagt Wanker heute. „Der hat mir erklärt, dass er dafür sorgen wird, dass ich in Tirol nie wieder eine Stelle kriege.“
Der mächtige Landespolitiker sollte recht behalten. Wankers Ansuchen um einen Ausbildungsplatz in der Erzieherschule Pfaffenhofen wurde mit dem Satz quittiert, dass sie sich erst gar nicht zu bewerben brauche.
Das gerichtliche Vorverfahren lief in Wankers Erinnerung wie ein Tribunal ab. „Ich wurde vier, fünf Stunden befragt wie eine Verbrecherin. Ich wurde regelrecht angebrüllt.“ Nach der Befragung erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Die prügelnde Klosterschwester wurde nicht verurteilt, durfte weiter Kinder betreuen.
„Mir wurde von allen Seiten klargemacht, dass ich in diesem Land nichts mehr verloren habe.“
Die Kirche stand der Politik in ihrer Gangart gegen Kritiker um nichts nach. Wanker: „Bernhard Praxmarer, der Dekan von Hall, hat mich in einer Predigt als Kommunistin, linke Emanze und Lügnerin hingestellt.“ „Mir wurde von allen Seiten klargemacht, dass ich in diesem Land nichts mehr verloren habe.“ Sie verließ Tirol, musste es verlassen, und ging nach Wien, wo sie die Erzieherschule absolvierte. Ihre Beziehung ging in die Brüche und auch in ihrer eigenen Familie wusste man nicht, wie man mit der als Landesverräterin Abgestempelten umgehen sollte.
Erst zehn Jahre später, 1990, kehrte Wanker wieder in ihre Heimat zurück. „Aufs Land, wo mich keiner gekannt hat.“
Mit der Kirche hat sich Wanker im Jahr 2012 nach einem langen Gespräch mit Bischof Manfred Scheuer ausgesöhnt. „Von der Politik gab’s noch nichts in die Richtung“, erklärt Wanker. Das könnte sich aber nun ändern. Auf Initiative ehemaliger Heimkinder soll Wanker für das Sozialehrenzeichen des Landes vorgeschlagen werden. Die zuständige Landesrätin Christine Baur (Grüne) meint dazu: „Was Frau Wanker passiert ist, hätte nicht passieren dürfen. Ihre Ehre muss wieder hergestellt werden.“
Wie auf kurier.at berichtet, tut sich in Tirol am Sektor der Ehrenzeichen einiges: Der Innsbrucker Gemeinderat hat erst am Donnerstag dem ehemaligen Missbrauchsvertuscher Pater Magnus Kerner und dem SS-Mann und verurteilten Kinderprügler Hermann Pepeunig posthum die Ehrenzeichen aberkannt. Wie die Tiroler Tageszeitung berichtet, will nun auch das Land Tirol die Aberkennung von Verdienstzeichen prüfen.
Man kommt aus dem Schaudern nicht mehr heraus, wenn man die Tagebuchauszüge Brigitte Wankers über ihre wenigen Monate im St. Josephs Institut in Mils aus dem Jahr 1980 liest.
Man spürt den grauen Alltag hinter den Mauern des Kinderheimes, der „Pflegeanstalt für Geistesschwache“, wenn man ihre Zeilen liest. „Bei vielen Kindern und Jugendlichen bestand die Behinderung darin, dass sie aus schwierigen Familien kamen oder körperlich behindert waren“, schreibt Wanker. Geführt wurden sie als „geistig Behinderte“. Sie berichtet von Schlägen, wie eine Klosterschwester einen Buben mit Downsyndrom an den Haaren ins Bad zerrt, um ihn kalt abzuduschen. Über Klopapier-Ersatz – „Für diese Schwachsinnigen ist Zeitungspapier gut genug, die kriegen eh nix mit“. Über Sinn-entleerte Rituale. Eine erschütternde, schonungslose Lektüre.
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