Österreichs junge Türken in der Radikalisierungsfalle

Österreichs junge Türken in der Radikalisierungsfalle
Junge Türken sorgten zuletzt für Schlagzeilen. Vom neuen Antisemitismus auf der einen und Ressentiments gegen Muslime auf der anderen Seite ist die Rede: Ein Erklärungsversuch aus vielen Puzzleteilen.

Wie auf Knopfdruck springt Kenan auf den Nahost-Konflikt an. "Scheiß Israel", schimpft er. Auf eine erste Widerrede zückt er sein Handy und zeigt ein YouTube-Video. "Warte, warte, jetzt." Ein Vater und dessen Sohn, beides offenbar Palästinenser, sterben im Kugelhagel. "Das ist nicht normal. Scheiß Juden", schießt es aus dem 17-Jährigen heraus.

Die Sozialarbeiter Fabian Reicher und Martin Dworak vom Verein Back Bones versuchen, sein Bild zu korrigieren. Mit Fragen. Vielen Fragen. "Was hat das mit den Juden zu tun?"

Beide Streetworker überlegten lange, ob sie ein Redakteur in den Park in Wien-Brigittenau begleiten darf. Es geht um die Beziehung, die sie zu den Jugendlichen aufgebaut haben. Sie willigten ein. Kein Foto, Namen ändern.

Viele Ressentiments

Österreichs junge Türken in der Radikalisierungsfalle
Anti-Israel-Demo in wien, von Türken organisiert
Der Nahost-Konflikt ist auf den Parkbänken Wiens angekommen – und mit ihm eine Debatte, die viele irritiert. Vom "neuen Antisemitismus" ist die Rede, und von der Frage, wie radikal manche junge Muslime mit türkischen Wurzeln eingestellt sind. Und es schwingen viele Ressentiments mit, nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Muslime.

Für den Integrationsexperten Kenan Cengiz gibt es auf so große Fragen keine Antwort: "Es gibt liberale bis religiöse Milieus." "Die eine" türkische oder muslimische Jugend, die gibt es nicht. Ebenso wenig wie Studien dazu. Antisemitismus ist in der Bevölkerung gut erforscht – und laut den Werten der Anti-Defamation-League weit verbreitet. 42 Prozent der Österreicher glauben etwa, dass Juden zu viel Macht auf den Finanzmärkten haben.

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Testspiel OSC Lille vs. Maccabi Haifa - türkische und palästinensische Fans stürmen das Spielfeld und attackieren die israelischen Spieler von Haifa GwendolineLeGoff PUBLICATIONxNOTxINxFRAxITAxBEL try out OSC Lille vs Maccabi Haifa Turkish and Palestinian supporters storm the Playing field and attack The Israeli Players from Haifa GwendolineLeGoff PUBLICATIONxNOTxINxFRAxITAxBEL
Doch die vergangenen Wochen waren nicht arm an Vorfällen. Aus demMeer aus 11.000 Demonstranten gegen den Gaza-Kriegstachen antisemitische Plakate heraus. Ähnliche Töne sind vom wahlkämpfenden türkischen Ministerpräsidenten zu hören, dem Tausende einen frenetischen Empfang in Wien bereiteten.In Bischofshofen griffen junge Türken Spieler des israelischen Fußballclubs Maccabi Haifa an. Der Präsident der islamischen Glaubensgemeinschaft, Fuat Sanac, verurteilte die Vorfälle. "Antisemitismus ist uns verboten." Zuletzt lief eine Diskussion im ORF zum Nahost-Konflikt aus dem Ruder und mündete inMorddrohungen gegen die Moderatorin(siehe unten). Es sind Bilder entstanden, die Birol Kilic, Obmann der türkischen Kulturgemeinde, verstören: "Die Mehrheit der Muslime ist sicher nicht radikal. Es denken auch nicht alle Österreicher wie Herr Strache."

Zurück im Park in der Brigittenau. Kenan, 17, Lehrling, hört zu, nickt. "Eh nicht alle", sagt er dann. Für die Sozialarbeiter Reicher und Dworak ist das schon ein kleiner Erfolg. Sie kennen ihn seit drei Jahren, suchten mit ihm eine Lehrstelle, erledigten gemeinsam Behördenwege. Reicher sagt: "Er ist noch ein Jugendlicher, er provoziert, experimentiert, plappert viel nach, unhinterfragt." Der Nahost-Konflikt schwappt in ihre Arbeit über. Auch die Syrien-Krise. "Wir sagen, was geht, was nicht", erzählt Dworak. Es sei wichtig, Grenzen aufzuzeigen.

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Ednan Aslan, Religionspädagoge, Professor Uni Wien
Im Büro von Ednan Aslan, Professor für islamische Religionspädagogik der Uni Wien: "Die weltweiten Ereignisse", sagt er, "haben die Muslime sicherlich radikalisiert." Dem türkischen Premier kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: "Er ist die Führungspersönlichkeit des islamischen Fundamentalismus", vereint radikale Strömungen von der palästinensischen Hamas bis zur türkischen Milli-Görüs-Bewegung. "Er liefert maßgeschneiderte Reden, die die Gefühle junger Türken ansprechen." Viel zu lange habe man die vielen türkischen Vereine ignoriert. "Das war stets eine Angelegenheit fremder Staaten. Das darf nicht mehr sein." Die Präsidentschaftswahl in der Türkei sei bald vorbei, der Konflikt werde dann abebben. "Wir sollten uns die Frage stellen, wer diese Menschen sind, die Erdogan zujubeln. Viele haben wir lange nicht als Bürger mit verschiedenen Bedürfnissen angesehen."

Reicher und Dworak tun das. Sie begegnen Kenan und seinen Freunden auf Augenhöhe. Sie gratulieren einem Burschen zum Zuckerfest. Den Jugendlichen, erzählt Dworak, bringe das Wertschätzung, den Sozialarbeitern einen Zugang zu ihrer Welt. Sie ist wie bei Kenan auch virtuell. "Sie sehen die Bilder, die machen etwas mit ihnen. Wir versuchen, die Bilder zu korrigieren." Oft mangelt es bei den Jugendlichen in ihren Parks an Bildung, das Elternhaus ist im Falle Kenans konservativ, es mangelt auch an Geld. Dworak sagt: "Sie spüren natürlich, dass sie gegenüber anderen benachteiligt sind."

Thomas Schmidinger beantwortet derzeit in heimischen Medien die meisten Fragen zu Jugendlichen und Antisemitismus (siehe unten). Oft ist "reale Benachteiligung" einer der Hintergründe. Der Schuldige dafür ist schwer zu finden – außer, man folgt Weltverschwörungstheorien. Es lohne sich, mit Jugendlichen zu arbeiten. Im Schulunterricht bestehe Handlungsbedarf. Geschichte und politische Bildung, sagt Schmidinger, komme nur dann bei Schülern mit Migrationshintergrund an, wenn er auch ihre Herkunft miteinbeziehe.

Ein Blick in die Online-Foren und auf die Werke heimischer Kommentatoren. Das Pendel schlägt ganz weit nach rechts aus: "Der Antisemitismus", sagt Schmidinger, "wird auch gegen Muslime eingesetzt." Pädagogikprofessor Aslan ergänzt: "Aufgrund der muslimischen Präsenz können sich die europäischen Antisemiten nicht abputzen." Das solle aber niemanden dazu verleiten, die Gefahr des Antisemitismus kleinzureden.

Im Vereinssitz von Back Bone. Die Jahresbilanz 2013 ist in einem Heft zusammengefasst, Chefin Manuela Synek erzählt eine Geschichte dazu. Es geht um eine Reise nach Israel, um Burschen, die nicht mitfahren durften, und zwei, die mit Vollbart am Flughafen erschienen. "Die beiden hatten Angst. Sie glaubten, sie werden dort erschossen." Stattdessen wurden sie von orthodoxen Juden angesprochen, ob sie praktizieren wollen. Und als sie zum Hotel fuhren, sahen sie im Umkreis von dreihundert Metern drei Moscheen. Einer der Burschen schrieb über die Begegnungen mit jungen Israelis im Heft: Es "waren die ersten Juden, die ich kennengelernt habe ... Alle Leute hier werde ich vermissen. Es ist nicht so, wie ich gedacht habe".

KURIER: Ist der Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen ein Randphänomen oder ein wachsendes Problem?

Thomas Schmidinger: Es eskaliert immer dann, wenn im Nahen Osten der Konflikt eskaliert. Das Problem gibt es schon länger, aber es wird tendenziell schlimmer, weil neosalafistische Gruppen stärker werden, die einen aggressiveren Antisemitismus vertreten.

Hat man das zu lange ignoriert?

Man hat sicher zu lange weggeschaut. Das hat damit zu tun, dass man politische Positionen dieser Gruppen nicht ernst genommen hat. Jetzt bin ich aber skeptisch, wie man mit dem Thema umgeht: Es wird sehr stark gegen Muslime an sich benutzt. Der Antisemitismus wird momentan als Argument für antimuslimische Ressentiments verwendet. Zum Beispiel von der FPÖ, die so tut, als gäbe es keinen Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft.

Welche Rolle spielen das Internet und soziale Netzwerke?

Eine sehr wichtige für die Verbreitung von antisemitischen Bildern. Es werden sehr rasch Fotomontagen und Bilder geteilt, die antisemitische Propaganda sind. Man kann sich einfach in eine parallele Medienwelt begeben.

Jugendliche stecken oft in einer Krise. Kann man da von Antisemitismus reden?

Es kommt darauf an, wie verfestigt der Antisemitismus ist. Ein Antisemit ist jemand, für den der Antisemitismus zu einem Welterklärungsmuster wird, wenn ich mehr oder weniger alle unerfreulichen Phänomene, mit denen ich zu tun hab, auf Juden und Jüdinnen zurückführe. Jemand der eine antisemitische Äußerung von sich gibt, ist nicht notwendigerweise ein Antisemit, hat sie vielleicht irgendwo aufgeschnappt. Mit denen, die noch keine ideologisierten Antisemiten sind, würde es sich natürlich lohnen, zu arbeiten. Das ist nicht an einem Nachmittag zu machen.

Was steckt hinter antisemitischen Haltungen?

Man muss dabei die Frage stellen: Welches Bedürfnis erfüllt der Antisemitismus? Nämlich sehr oft reale Benachteiligungen, die man sich nicht erklären kann. Der moderne Antisemitismus ist parallel zum Kapitalismus entstanden. Der Kapitalismus ist im Gegensatz zum Feudalismus ein warenvermitteltes Herrschaftssystem. Es gibt Herrschaft, es ist aber unklar, wer der Herrscher ist. Den Feudalherren kann man vielleicht noch erschlagen. Im Kapitalismus ist das viel komplexer. Die nicht verstandenen Leiden am Kapitalismus werden dann mit antisemitischen Verschwörungstheorien erklärt.

Gibt es Defizite im Schulunterricht?

In den Schulen gibt es dringenden Handlungsbedarf. Selbst wenn es engagierten politischen Unterricht gibt, vermittelt er Jungen eine Geschichte, die die Situation in den Herkunftsländern nicht integriert. Deshalb ist er nicht Teil ihrer Geschichte und ihres Themas. Man müsste das in Richtung einer Menschenrechtserziehung ausbauen. Wir müssen verstehen, dass wir in Österreich in einer postmigrantischen Gesellschaft leben. In vielen Klassen haben die Kinder eine andere Herkunft. Wenn ich als Lehrer erzähle, was "wir" in der Vergangenheit getan haben, dann nützt solche Art der politischen Bildung wahrscheinlich wenig.

Abdurrahman Karayazili redete sich in Rage. Der Chef der UETD, der Europäisch Türkischen Demokraten, fiel der ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter und seinem Visavis ins Wort. Das Thema war ein emotionales – der Nahost-Konflikt. Nach 9.35 Minuten verließ Karayazili wütend das ORF-Studio.

Die UETD, der Karayazili vorsteht, ist eine Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP. Heuer mobilisierte sie Tausende Türken zum Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Wien. Für Karayazili ein Erfolg, die ihm viel Prominenz bescherte. Diese hat er mit seinem ORF-Auftritt noch gesteigert, allerdings nicht im positivem Sinne. Vor laufender Kamera weigerte er sich, sich von jüngsten Aussagen Erdogans zu distanzieren, der Israel mit Hitler-Deutschland gleichgesetzt hatte. Der junge Türke polterte, ließ niemanden zu Wort kommen, fuchtelte mit Fotos herum.

Dem KURIER wollte er nur ein Interview geben, wenn der Bericht "loyal" verfasst und es vorab eine Zusage für genügend Platz gäbe. Das Interview kam deshalb nicht zustande.

Es blieb nicht bei dem wütenden Abgang. Nach Karayazilis Auftritt setzte in sozialen Netzwerken und auf der Facebook-Seite der ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter ein Shitstorm ein, der seinen Namen verdient hatte. Sogar eine Morddrohung war darunter. Die türkische Kulturgemeinde forderte eine Distanzierung und das Ende der Hetze. Karayazili ging auf Twitter auf Distanz dazu. Im Netz solidarisierten sich viele mit der Moderatorin. Auf Twitter riefen sie zu einem Blumenregen für sie auf.

Ausgelassene Stimmung vor dem Wiener Messezentrum: Kleine Kinder haben den Brunnen vor dem Haupteingang kurzerhand in einen Pool umfunktioniert; im Schatten der Bäume verzehren einige türkische Familien mitgebrachte Sandwiches.

In Österreich lebende Türken haben auch in der Alpenrepublik die Möglichkeit, ihre Stimme für die Präsidentenwahl in der Türkei abzugeben. 94 Wahlkabinen stehen dafür in der großen Halle am Wiener Messeplatz zur Verfügung. Große Schilder mit Pfeil und Aufschrift "Cumhurbaskani Secim Mahalline Gider" (dt. "Zum Wahllokal der Präsidentschaftswahl") weisen den Wahlberechtigten den Weg.

Gemischte Gefühle

Für das Amt des türkischen Staatschefs haben sich drei Kandidaten beworben; als aussichtsreichster gilt der amtierende Regierungschef der AKP, Recep Tayyip Erdogan. Vor dem Messegelände gehen die Meinungen über den derzeitigen Präsidenten weit auseinander. "Er ist ein guter Präsident. Er setzt sich für alle Menschen ein, egal, welche Religion sie haben", sagt etwa die 52-jährige Gülseren. Die Rede des Regierungschef vor einigen Wochen in der Albert-Schultz- Halle hat sie sich natürlich nicht entgehen lassen. Die 25-jährige Eda wiederum hat am 19. Juni einen großen Bogen um die Halle gemacht. Die türkische Studentin hält nichts vom Chef der AKP. Sie wirft Erdogan Frauenfeindlichkeit vor. "In das Bild, das er von Frauen zeichnet, passe ich nicht", sagt Eda.

Die Wahllokale in Wien, Salzburg und Hohenems sind auch noch heute, Sonntag, von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Von den 90.000 Wahlberechtigten, haben sich nur 6559 online für einen Termin registriert.

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