Wohnungslosenhilfe: "Obdachlose gibt es nicht nur im Wahlkampf"
ÖVP und Grüne wollen Wohnungslosigkeit eindämmen (siehe Infobox unten). Markus Hollendohner ist der Leiter der Wiener Wohnungslosenhilfe und will keine kurzfristigen Ansätze, sondern Perspektiven für die Betroffenen.
KURIER: Grüne und ÖVP warnen vor steigender Wohnungslosigkeit. Wie ist die Situation auf den Straßen?
Markus Hollendohner: Die aktuellsten Zahlen zeigen einen Rückgang. Wir spüren aber mehr Andrang bei den Beratungen, die Unsicherheit bei den Menschen wächst. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Wohnungslosenzahlen erst Jahre nach Wirtschaftskrisen steigen.
Warum hat man dann den Eindruck, dass es derzeit viel mehr Menschen ohne Obdach gibt?
Nicht alle, die so aussehen, sind es auch. Wenn es wärmer wird, halten sich auch Menschen viel mehr im öffentlichen Raum auf, die sehr beengt oder prekär leben.
Es ist immer die Rede von Wohnungslosigkeit. Sollte man den Begriff „Obdachlos“ nicht mehr verwenden?
Es sind zwei unterschiedliche Dinge. Obdachlose Menschen wohnen auf der Straße oder kommen in unseren Notquartieren unter. Wer wohnungslos ist, hat zwar keine eigene Wohnung, kommt aber bei Freunden unter oder ist bei uns in der Versorgung.
Warum gibt es im Sommer weniger Plätze?
Die Frage muss man umdrehen: Warum gibt es im Winter mehr Plätze? Weil es in Wien das Commitment gibt, dass im Winter niemand in der Kälte auf der Straße schlafen muss. Diese humanitäre Maßnahme ist ein Alleinstellungsmerkmal der Stadt.
Wird es aufgrund der Klimaerwärmung und der noch heißeren Sommer künftig in diesen Monaten auch mehr Plätze brauchen?
Wir haben heuer schon mehr Plätze im Sommer als vergangenes Jahr. In den Tageszentren ist es gekühlt, um den Hitzestress zu reduzieren, Streetworker sind mit Wasserflaschen unterwegs. Generell ist unser Ziel aber nicht, Menschen nur in Notschlafstellen unterzubringen, sondern ihnen eine Perspektive zu geben.
Die Grünen wollen, dass Wien die erste europäische Metropole wird, die Wohnungslosigkeit abschafft. Wie realistisch ist das?
Es ist ein ambitioniertes Ziel, es ist auch unser Ziel. Wien kann es aber nicht allein erreichen. Es braucht einen Schulterschluss auf Bundesebene und auch international. Solange es Länder gibt, in denen Obdachlosigkeit kriminalisiert wird, wird es sie auch weiter geben.
Die ÖVP fordert
- Prüfung der Anzahl geeigneter Unterbringungsplätze
- Deutlich sichtbarere Präsenz der Sozialarbeit im öffentlichen Raum und das rund um die Uhr
- Aktives Anbieten von Unterbringungsplätzen statt „Verwalten der Obdachlosigkeit“
- Flexible Anpassung an die jeweils aktuelle Lage – das Winterpaket von Fonds Soziales Wien muss auch auf den Sommer ausgeweitet werden
- Mehr Personal in der Sozialarbeit und stärkere Vernetzung mit der CARITAS
- Helpline für Wienerinnen und Wiener, damit sie Sozialarbeiter erreichen
Die ÖVP sagt, Obdachlose aus dem EU-Ausland verschärfen die Situation. Ist der Grund diese Kriminalisierung?
Es ist eine Tatsache, dass wohnungs- oder obdachlose Personen aus dem EU-Ausland zu uns kommen. Die haben bei uns keine sozialrechtlichen Ansprüche. Aber, wie vorhin gesagt, muss in Wien im Winter niemand auf der Straße schlafen, das gilt auch für diese Personen. Überall wo humanitäre Maßnahmen gesetzt werden, gehen die Menschen hin. Wien hat hier die gleichen Herausforderungen wie andere europäische Großstädte im Westen. Übrigens auch im Westen Ungarns, wo es auch mehr Unterstützung gibt als im Osten.
Wie ist Ihre Einschätzung zu den Vorschlägen der ÖVP und der Grünen?
Wir freuen uns, wenn die Politik das Thema im Fokus hat, die Vorschläge kratzen aber sehr an der Oberfläche. Obdachlosigkeit ist nicht nur in Zeiten des Wahlkampfs Teil einer Großstadt und man sollte vulnerable Gruppen nicht dazu nutzen, Kapital daraus zu schlagen. Wir arbeiten evidenzbasiert, sind im engen Austausch mit Betroffenen und erarbeiten darauf aufbauend Maßnahmen.
Die Grünen fordern
- Mehr Wohnungen für „Housing first“ („Wohnen zuerst“): Aus freiwerdenden Wohnungen (komunnal, ausfinanziert) sowie im Neubau soll ein Kontingent bereitgestellt werden. Auch soll der soziale Wohnbau angekurbelt werden: Es braucht 2.500 neue Gemeindewohungen, 5.000 neue gemeinnützige Wohnungen pro Jahr.
- Vorrang für sozialen Wohnbau bei der Widmung: Das Planungsressort muss sozialem Wohnbau Vorrang einräumen.
- Einführung einer Leerstandsabgabe und einer städtischen Wohnungsplattform (bei der Eigentümern die Leerstandsabgabe erlassen wird, wenn sie ihre Wohnungen über die Plattform vermieten lassen): Ein Drittel dieser Wohnungen soll der Wohnungslosenhilfe zur Verfügung gestellt werden.
- Maximal ein Viertel des Einkommens fürs Wohnen – mit der Zusammenführung von Wohn- und Mietbeihilfe zu einem einheitlichen Wohngeld und dem Ausbau der Wohnbeihilfe für Menschen in Ausbildung.
- Ausbau der Delogierungsprävention: Hausverwaltungen sollen ab Rückstand über einer Monatsmiete eine soziale Delogierungsberatung für Mieter:innen beiziehen können.
- Notversorgung ganztägig und ganzjährig öffnen statt wie derzeit nur zwischen November und April.
Wo kann Wien noch besser werden?
Wir schauen uns regelmäßig Best-Practice-Beispiele aus dem Ausland an, wobei man anmerken muss, dass Wien selbst in vielen Dingen eine Vorreiterrolle hat, etwa beim gemeinnützigen Wohnbau oder bei der Delogierungsprävention. Darauf ruhen wir uns aber nicht aus. Es gibt etwa einen Anstieg bei psychischen Erkrankungen. Auf solche Entwicklungen muss man reagieren.
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