Obdachlosigkeit in Österreich: Wer auf unseren Straßen lebt
In Wien haben mehr als 12.000 Menschen kein Zuhause, darunter viele aus Osteuropa. Denn während die Stadt Österreichern mit Angeboten helfen kann, stehen Ausländern keine Leistungen zu.
Piotr sitzt in der Favoritenstraße auf dem Boden, es ist eiskalt an diesem Mittwochmorgen. Seine Hände streckt Piotr Passanten entgegen. Er lächelt, wenn ihm jemand ein paar Münzen gibt.
Piotr kommt aus der Slowakei, sein Deutsch ist schlecht, aber gut genug, um zu sagen, dass er seit vier Jahren auf der Suche nach Arbeit ist. „Ich habe keine gefunden, in der Slowakei nicht und auch hier nicht.“ Er sei nach Wien gekommen, weil er gehofft hatte, hier Hilfsarbeiter sein zu können. Doch jetzt bleibt ihm nur das Leben auf der Straße.
Die Gründe, warum Obdachlose aus dem EU-Ausland nach Österreich kommen, sind vielfältig. In Piotrs Heimatland werden Obdachlose, vor allem Roma und Sinti, beispielsweise stark diskriminiert. In Ungarn ist es gesetzlich verboten, obdachlos zu sein. Wird man zwei Mal beim Campieren auf der Straße erwischt, droht eine Gefängnisstrafe.
Vor allem in den Wintermonaten kommen viele Menschen nach Österreich
Deshalb kommen jedes Jahr – vor allem in den Wintermonaten – viele obdachlose EU-Bürger nach Österreich. Die meisten stammen aus Rumänien und der Slowakei, gefolgt von Ungarn, Polen und Bulgarien.
Keine Sozialleistungen
Chancen auf eine Wohnung oder Sozialleistungen hat Piotr in Österreich nicht. EU-Bürger genießen innerhalb der EU zwar Reisefreiheit, aber wenn sie in Österreich nie sozialversichert waren, haben sie keinen gesetzlichen Anspruch auf die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe.
Nur in Notschlafplätzen können sie unterkommen und das wird gerne angenommen, wie Markus Hollendohner, Leiter der Wiener Wohnungslosenhilfe im Fonds Soziales Wien (FSW) erklärt: „In den Notquartieren, also den niederschwelligsten Angeboten für obdachlose Menschen, gibt es etwa 18 Prozent Österreicher und 60 Prozent sonstige EU-Bürger.“
Österreicher müssen meist nicht lange in den Notquartieren bleiben, denn sie können Angebote wie „Housing First“ nutzen. Dabei wird wohnungslosen Menschen unkompliziert eine Wohnung zur Verfügung gestellt, ohne dass sie vorher ein Stufenmodell durchlaufen müssen, um sich für die eigenen vier Wände zu qualifizieren. Daher kommen jene, die tatsächlich auf der Straße leben, meistens aus dem Ausland.
Für sie stellt die Stadt Wien seit Jahren zusätzliche Notschlafplätze zur Verfügung, um Menschen, die in Österreich kein familiäres Netzwerk und auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, im Winter einen Schlafplatz zu sichern. „Niemand soll die Nacht im Freien verbringen müssen“, sagt Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ).
Inklusive dieser zusätzlichen Plätze gibt es in den Wintermonaten knapp über 1.700 Plätze für obdachlose Menschen im niederschwelligen Bereich. Die Auslastung liegt bei rund 90 Prozent.
20.000 Obdachlose
Immer wieder gibt es von kritischen Stimmen den Vorwurf, dass Obdachlose aus dem Ausland nach Österreich kommen würden, sich hier vom Staat „erhalten lassen“ und eigentlich gar keine Arbeit suchen. Das kann Experte Hollendohner so nicht gelten lassen: „Niemand sucht es sich aus, obdachlos zu sein. Viele geraten wegen einer psychischen oder einer Suchterkrankung in so eine Situation.“
Die Zahl der Obdachlosen in Österreich liegt laut einer Erhebung aus dem Jahr 2021 bei rund 20.000 Menschen. Der FSW betreut insgesamt 142.600 Personen, 12.370 davon sind in der Bundeshauptstadt per Definition obdachlos. Das sind Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Wohnungslos sind wiederum jene, die eine vorübergehende Unterkunft, aber keine eigene Wohnadresse haben. Das sind Personen, die zum Beispiel bei Freunden oder Familie unterkommen.
Von den mehr als 12.000 Obdachlosen sind wiederum 33,5 Prozent Frauen. Die meisten sind zwischen 31 und 54 Jahre alt und sollten somit eigentlich im Berufsleben stehen – so wie sich das auch Piotr wünscht.
Doch gerade für Menschen aus dem Ausland sei es mit großer Überwindung verbunden, wieder in die Heimat zurückzukehren, wie Markus Hollendohner sagt: „Obdachlosigkeit ist oftmals mit sehr viel Scham verhaftet. Das hindert bei einer Rückkehr.“ Viele würden nicht „gescheitert“ zurückkehren wollen, obwohl es in der Heimat Familie oder Freunde gäbe, die sie aufnehmen könnten.
Auch für solche Situationen gibt es in Wien ein Service: „Für EU-Bürger gibt es eine eigene Beratungsstelle, bei der die Menschen in ihrer Muttersprache beraten werden. Personen, für die es in Wien kaum Perspektiven gibt, werden hier über Möglichkeiten, wie auch eine Rückkehr ins Heimatland beraten. In der Beratungsstelle wird versucht, den Menschen Perspektiven in ihren Heimatländern aufzuzeigen.“
Krisenjahre
Dass die Zahl der Obdachlosen in den nächsten Jahren dank der vielen Angebote sinken wird, ist nicht anzunehmen – im Gegenteil. Wegen der Teuerung und der hohen Mieten schätzen Experten, dass die Zahl der Obdachlosen in den kommenden Jahren um bis zu einem Drittel steigen könnte. „Es ist nicht die erste Krise, die wir erleben, und wir verfolgen die Situation genau. In den Zahlen der Wohnungslosenhilfe sieht man das erst stark zeitversetzt, aber wir sind wachsam“, sagt Hollendohner.
Als der KURIER am Mittwochmorgen mit Piotr spricht, erzählt er, dass er die vergangene Nacht im Freien verbracht hat. Dass das nicht so sein muss, scheint er nicht zu wissen. Nur wenige Momente später kommt eine Sozialarbeiterin hinzu und setzt sich neben Piotr. Er muss in der kommenden Nacht nicht mehr frieren.
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