Misshandelt: Vom Jugendamt zu einer Mörderin gesteckt
270 Seiten. So dick ist der Akt von Walfried Janka. Das erste Mal in Händen hält er ihn im Jahr 2016. Das erste Mal sollte er die grausame Wahrheit über seine Kindheit lesen. Nein, er hat sich das alles nicht eingebildet. Immer wieder dachte er, vielleicht bin ich wirklich verrückt? Immerhin haben ihn alle immer den Dummen, den Vollkoffer, den Behinderten genannt. Die Pflegemutter, die Lehrer, die Mitschüler, ja sogar Psychologen und Ärzte, die Gutachten über ihn erstellt haben.
Aber da, auf diesen 270 Seiten, steht es. Schwarz auf weiß. Mit Schreibmaschine abgetippt. Das 16-jährige Martyrium eines Kindes, das in der Obhut des Staates misshandelt, missbraucht, und gedemütigt wurde und dem jegliche Chance auf ein glückliches, zufriedenes Leben genommen wurde. „Mein ganzes Leben war ein Kampf“, sagt Walfried heute mit seinen 52 Jahren und raucht sich eine Marlboro an.
Seine Zähne sind schief und kaputt, der Kiefer deformiert von den vielen Brüchen, „doch da wird nichts mehr gemacht“, sagt Walfried bestimmt. Zu groß ist die Angst vor einem Zahnarztbesuch. Zu sehr würde es ihn an jenen Tag erinnern, als die „Person“, wie er seine Pflegemutter heute nennt, mit einer rostigen Beißzange alle seine Milchzähne gerissen hat. Sein Körper war an einem Stuhl festgebunden, die Tochter der Pflegemutter musste seinen Kopf stillhalten. Geschrien hat er, bis er nicht mehr konnte. Und weil sein Blut dabei auch „die Person“ bespritzt hat, hat sie ihn danach zur Strafe heftig verdroschen. Walfried war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt.
Dies ist die Geschichte eines steirischen Jungen, dem nichts im Leben erspart geblieben ist. Es ist die Geschichte eines Kindes, das nie jemanden hatte, dem es wichtig war. Es ist ein Leben voll eiskalter Gewalt und einsamer Stille, ewiger Dunkelheit, stundenlangem Weinen und jahrelangem Wegschauen.
"Ein krankes Monster"
Es ist das Jahr 1966 als der Babyjunge von seiner leiblichen Mutter an die Großmutter übergeben wird. Sie sei zu jung gewesen, um sich um das Kind zu kümmern. Aber auch die Großmutter wird kurz darauf überfordert sein. Und so wird der kleine Walfried bei einer Pflegemutter untergebracht. Dass sie nicht seine leibliche Mutter ist, wird er erst viele Jahre später erfahren. Das und noch vieles mehr.
Bei „der Person“ lebten zeitgleich fünf Kinder. Zwei leibliche und drei Pflegekinder, Walfried war der Jüngste. Auch der Lebensgefährte der Pflegemutter, ein schwerer Alkoholiker, der bei all dem Grauen zugesehen hat, aber nie eingeschritten ist, wohnte in dem steirischen Haus, dessen Garten direkt an ein großes Maisfeld angebaut war.
Heute bezeichnet Walfried seine Pflegemutter als „Monster“ und „krank“. Doch damals, als er noch ganz klein war, kannte er jahrelang nichts anderes. Die Schläge, die Gewalt, das bitterliche Weinen waren ganz normal für ihn. Ihm wurde stets eingetrichtert, über das, was hinter den verschlossenen Türen passierte, mit niemandem zu sprechen. Sonst werde sie ihn umbringen, ihn würde ja ohnehin keiner vermissen. Und so hat er alles über sich ergehen lassen. Auch die anderen beiden Pflegekinder wurden massiv misshandelt. „Die zwei leiblichen Kinder hat sie zeitweise etwas besser behandelt“, erzählt Walfried.
Noch heute sieht man die Narben
„Ich hab über 50 Watschen am Tag bekommen, wenn man die Hiebe mit den Kochlöffeln mitrechnet.“ An die Jahre als Kleinkind kann Walfried sich kaum erinnern, aber mit dem ersten Schultag setzt die Erinnerung wieder voll ein. „Schon bevor ich das Haus verlassen habe - ohne Frühstück oder Jause - wurde ich täglich verprügelt. Und wenn ich heim gekommen bin, ist es weitergegangen. Sie hat sich regelrecht abreagiert an uns.“ Nicht einmal habe sie den Kochlöffel an seinem kleinen Körper zertrümmert und sogleich einen anderen geholt, um weiter zuzuschlagen. Noch heute sind Narben an seinem Körper zu sehen.
Die meiste Zeit waren die Kinder in einem 14 Quadratmeter kleinen Zimmer eingesperrt, außer wenn sie zur Volksschule gingen. „Die Person“ habe die Glühbirne herausgedreht und die Türe verschlossen. Die Fenster wurden verdunkelt. Fast jede Nacht habe sie eines der Kinder an den Haaren aus dem Raum gezerrt und verdroschen. „Einmal weil es zu leise war, dann weil es zu laut war, dann wieder weil wir geflüstert haben. Also haben wir irgendwann gar nichts mehr gemacht außer da zu sitzen und zu starren.“ Wenn Walfried heute beschreibt, wie er mit einem „Holz-Fliegenpracker“, bei dem ein alter Nagel weg gestanden hat, auf den Hinterkopf geschlagen wurde, dann macht er eine feste schnelle Bewegung mit der rechten Hand und deutet den Schwung des Schlages nach. Der Nagel hat sich damals in seinen Hinterkopf gerammt, auch hiervon ist noch eine Narbe zu sehen. Auch von einem Stoß in den Glaskasten, der im Wohnzimmer stand, trägt er heute noch sichtbare Spuren.
Die Nachbarn hätten sich oft beschwert, dass in dem Haus ständig geschrien wurde. Daraufhin aber hätte die Pflegemutter diesen ein „Stamperl Schnaps“ oder einen Kaffee angeboten und sie dadurch zum Schweigen gebracht.
„Das „Plumpsklo“ im Garten sei von den Erwachsenen und allen Kindern benutzt worden. Die eigentliche Besitzerin des Hauses, Frau Ebner, habe irgendwann begonnen, zehn Groschen pro Toilettengang zu verlangen. Dies habe die Pflegemutter dazu veranlasst, den Pflegekindern zu verbieten, auf die Toilette zu gehen und ihnen verrostete alte Nachttöpfe für die Notdurft zu geben. Diese seien zu Beginn von der Pflegemutter entsorgt, bald aber nicht mehr entleert worden.“ (Auszug aus dem Bericht der Clearingstelle, 2017)
Walfried wusste also nicht, wo er seinen Toilettengang verrichten sollte. Und so hat er oft in sein Bett gemacht, schwere Prügel waren die Folge. Er selbst habe versucht, sich mit dem Finger den After zuzuhalten. „Das hat furchtbar wehgetan“, erzählt er. In seiner Panik hat er den eigenen Kot in den Ritzen des Dielenbodens im Zimmer verteilt. „Deshalb und wegen der vollen Töpfe hat es dort immer stark gestunken.“
"Ich habe mich so geschämt"
Die Pflegekinder hätten „ihren“ Raum nur für den Schulbesuch verlassen dürfen. „Die gesamten Ferien über waren wir dort eingesperrt.“ Bei angekündigten Besuchen des Jugendamtes sei das Zimmer vorher gereinigt und gelüftet worden. „Und sie hat die Glühbirne immer kurz vorher wieder eingedreht“, sagt Walfried. Die Pflegekinder seien bei diesen Gelegenheiten „sauber vorgeführt“ worden.
In der Schule wurde Walfried gehänselt und gemobbt. „Wegen meiner zerrissenen und schmutzigen Kleidung und des seltsamen Haarschnittes“, erzählt er. „Sie hat mir einen Blechtopf aufgesetzt und rundherum geschnitten. Ich hab' ausgeschaut wie ein Depp.“ Aber auch seine schüchterne Art war ein Grund für die Mitschüler, ihn zu drangsalieren.
Eine Sache, die Walfried besonders schwer fällt zu erzählen: „Ich war bis zum 18. Lebensjahr Bettnässer. Es wollte einfach nicht besser werden“, er blickt zu Boden. „Ich hab mich so fürchterlich dafür geschämt.“
Albträume begleiten ihn teilweise heute noch. Im Traum kämpft er mit seiner Pflegemutter. Und er verliert jedes Mal. Auch heute noch.
Ein Gutachten mit Folgen
„Für uns gab es nur verschimmeltes Brot und Milch.“ Wenn Walfried sich aufgrund des ungenießbaren Essens übergeben hat, musste er das Erbrochene aufessen. Als Walfried einmal versuchte etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen, habe sie ihn am Bett festgebunden. „Ich weiß, dass eine Nachbarin das mindestens einmal gesehen hat“, sagt er, Belege finden sich im Akt des Jugendamts.
Mehrmals hat er versucht, all dem zu entkommen. Wegzulaufen. Daraufhin habe „die Person“, ihren Jagdhund auf ihn abgerichtet, der ihn auch einmal gebissen hat. In seinem Mundwinkel sieht man noch eine kleine Narbe.
Nach einer Mutprobe unter den Schülern wurde Walfried für sechs Wochen auf einer Heilpädagogischen Station, einer Psychiatrie, untergebracht. Das damalige Gutachten, das über Walfried erstellt wurde, war verheerend für sein späteres Leben: Er sei zu dreißig Prozent geistig behindert, hieß es da. „Das hat aber nicht gestimmt“, sagt Walfried.
Bis zum 16. Lebensjahr verbrachte der Junge immer wieder Aufenthalte auf der Psychiatrie, die damals von den Kreuzschwestern, einem katholischen Orden, geleitet wurde. „Ich habe mich also als geistig gesundes Kind inmitten von 45 schwer geistig behinderten Kindern befunden und wurde genauso behandelt wie die anderen.“
Auch auf der Psychiatrie standen Schläge auf der Tagesordnung. Mit dem Kabelschlauch etwa. „Züchtigung war dort das übliche Mittel, um uns in Zaum zu halten.“ Wenn Schläge nicht genug waren, wurden die Kinder sediert oder in Zwangsjacken oder Netzbetten gesteckt.
„Ich hatte ein so großes Bedürfnis nach Bewegung und Bildung gehabt, aber das war allen völlig egal. Mir haben die Kinder dort so furchtbar leid getan.“ Walfried wurde von den Schwestern, wie alle anderen, einmal die Woche gewaschen. „Ich erinnere mich an eine sommersprossige Schwester, die mir gezeigt hat, wie man den ‚Schnidelwutz‘ wäscht." Dabei habe sie ihn erregt und als Strafe für die Erregung "hat sie meinen Kopf in der Wanne unter Wasser gedrückt bis ich fast ohnmächtig wurde und mir gesagt, das sei eine Gottessünde.“
"Ich dachte, das war meine Rettung"
Im Jahr 1981 haben mehrere Nachbarn Anzeige gegen die Pflegemutter erstattet. Zeitgleich wurden die Kreuzschwestern aus dem Dienst genommen und durch diplomierte Pfleger ersetzt. Im Alter von sechzehn Jahren wurde Walfried schließlich von einem dieser Pfleger zuhause aufgenommen und später adoptiert. „Ich dachte, das war meine Rettung“.
Für die Gewalt, die ihm dort zuvor widerfahren ist, wurde Walfried durch die unabhängige Opferschutzkommission der katholischen Kirche entschädigt. 5.000 Euro hat er vor ein paar Jahren dafür bekommen. „Und ein Entschuldigungsschreiben der Kreuzschwestern“, sagt Walfried kopfschüttelnd. Mit dem Geld hat er in erster Linie Schulden abbezahlt. Heuer im März bekam Walfried die höchste Schadensersatzsumme des Gewaltschutzzentrum des Landes Steiermark zugesprochen, umgerechnet sind das vier Euro für jeden Tag seiner qualvollen Kindheit und Jugend.
Sein neues Zuhause bei dem Pfleger war, wie Walfried es nennt, „der Himmel“. „Das erste Mal feierte ich Geburtstage, Weihnachten. Das erste Mal lernte ich Zuneigung, Liebe und Vertrauen kennen.“ Und das erste Mal in seinem Leben wurde Walfried nicht geschlagen. Doch die Realität holte den Jungen schneller ein als ihm lieb war. „Ich stand mit 18 Jahren vor dem Nichts. Ich war Analphabet, hatte keine Ausbildung und keine Chance, mein Leben irgendwie zu verbessern.“ Durch das Zeugnis der Sonderschule für geistig Schwerbehinderte hatte er keine Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen. Auch das wird in den Akten festgehalten. Also schlägt er sich mit Hilfsarbeiterjobs durch und tränkt seine Probleme in Alkohol.
Als seine Lage immer schlimmer wird und um den Dämonen der Vergangenheit zu entrinnen, flüchtet der junge Mann nach Wien. Vielleicht klappt es ja in der großen Stadt, dachte er.
Über die folgenden Vorkommnisse würde Walfried am liebsten Schweigen. Nicht, weil er etwas verbergen möchte, sondern weil er es immer noch nicht fassen kann, was er getan hat. Weil es ihm so sehr leid tut und weil er jenen Tag als den schlimmsten seines Lebens beschreibt. Jenen Tag als er mit einem Taxifahrer zu streiten beginnt. Das Wortgefecht eskaliert immer weiter. Walfried ist betrunken, ihm fällt im Auto seine Zigarette auf den Sitz. „Ihr jungen Leute habt nur Saufen und Spaß im Schädel“, schreit ihn der Taxifahrer an. Bei Walfried brennen die Sicherungen durch. Er wird in dieser Nacht mit seinen 19 Jahren zum Mörder.
Keine Schüchternheit mehr
Wenn Walfried vor einem sitzt, kann man kaum glauben, was dem Mann schon alles widerfahren ist. Er wirkt heute sehr selbstbewusst, drückt sich recht gewählt aus, lächelt viel. Es wäre jedoch eine Lüge zu sagen, er hätte sich noch nie aufgegeben. „Ein paar Mal im Gefängnis. Da wollte ich mich selbst hinrichten. Es hat aber nie funktioniert.“
Und seine damalige Schüchternheit habe er an jenem Tag abgelegt als er in der Justizanstalt Krems-Stein einmarschiert ist, in der Kluft, in den Handschellen. „Du bist ei’zogn“, hat einer der Insassen zu ihm gesagt. „Ich als dummer, desorientierter Mensch wusste nicht, was er meint.“ Sein Zellenkollege erklärt es ihm: „Der wird dich vergewaltigen.“ Von da an hat Walfried begonnen, sich zu wehren und seine Zurückgezogenheit abzulegen. „Ich hab’ angezündete Häftlinge gesehen. Ich hab’ gesehen, wie einer sich selbst 48 Messerstiche zugefügt hat. Dort herrschen andere Gesetze.“
In seinen 14 Jahren im Gefängnis lernt sich Walfried das Wichtigste autodidaktisch. Er versucht so viel Bildung wie möglich nachzuholen. Und er reflektiert sein bisheriges Leben. Zu viele Fragen, keine Antworten.
In den Jahren nach dem Gefängnis versucht Walfried, Fuß zu fassen. Doch es klappt nicht. Job bekommt er keinen, er lebt von der Notstandshilfe. Bis heute. „Du kriegst einfach keine Chance mit so einem Lebenslauf.“ Auch ein Versuch, sich selbstständig zu machen, scheitert an der Vorstrafe. Hinzu kommt, dass ihn die schlimme Kindheit immer wieder einholt.
Die ganze Wahrheit
Endlich passiert etwas wirklich Schönes und Gutes in Walfrieds Leben. Er lernt seine heutige Frau kennen, sie heiraten. Walfried nimmt ihren Nachnamen an - auch um mit seiner Vergangenheit wieder ein Stück weit abzuschließen. Walfried und seine Frau bekommen zwei Kinder, die heute im Teenager-Alter sind. „Ab dem Tag, wo ich Vater war, konnte ich das grausame Verhalten meiner Pflegemutter noch viel weniger verstehen. Meine Kinder wachsen komplett gewaltfrei auf, wir reden über alles. Ich will, dass sie die glücklichsten Kinder der Welt sind.“
Die Jahre vergehen. Die Albträume bleiben. Im Jahr 2016 entscheidet Walfried sich dazu, seinen Jugendamt-Akt bei der Bezirkshauptmannschaft Leibnitz in der Steiermark einzufordern und nimmt Einsicht. „Mir ist beim Lesen das Herz stehen geblieben. Ich hab’ gezittert, geflucht und geweint.“
270 Seiten, auf denen die ganze Wahrheit steht. Er liest, dass seine Pflegemutter - nur wenige Jahre bevor sie Walfried aufgenommen hat – Kindesmord begangen hat und dafür zu drei Jahren „schwerem Kerker“ verurteilt wurde.
Er liest die Zeilen immer und immer wieder. Es ergibt doch alles keinen Sinn. Und irgendwie tut es das nun doch. Warum gibt man ein Baby – und zwei andere - zu einer Pflegemutter, die bereits ein leibliches Baby auf brutalste Weise getötet hat?
Auf diese Frage hat Walfried bis heute keine Antwort erhalten. Aber einen Entschuldigungsbrief von Landeshauptmann Schützenhöfer hat er bekommen. Mehr nicht.
„Das besondere an Walfrieds Fall ist, dass im Gegensatz zu vielen anderen solcher Kinder, der Akt komplett vollständig vorhanden und alles detailliert beschrieben ist“, sagt sein juristischer Berater Markus Drechsler. Da Walfried bei der Akteneinsicht untersagt wird, Kopien zu erstellen, fotografiert er in Absprache mit seinem Anwalt alles ab. (Alle Unterlagen liegen dem Kurier vollständig vor)
„Am 17.11.2017 wurde vom Gewaltschutzzentrum Steiermark als Clearingstelle für Opfer von Gewalt in Institutionen ein persönliches Gespräch mit Herrn Walfried Janka geführt. Da es sich bei dem von Herrn Janka reflektierten Sachverhalt um Vorfälle aus den Jahren 1966 bis handelt, ist die Strafbarkeit dieser Vorfälle verjährt. Herr Janka war in dieser Zeit weiters auf der Heilpädagogischen Station im Landessonderkrankenhaus Graz untergebracht (...)Herr Janka schilderte seine Erlebnisse äußerst präzise und erinnerte sich an viele Details sowohl von der Zeit bei der Pflegemutter als auch auf der Psychiatrie. Seine Schilderungen werden durch die angeführten Unterlagen untermauert.“
Walfried stößt beim Lesen plötzlich auf ein weiteres Gutachten einer anderen Ärztin, das im Jahr 1981, also nach Bescheinigung der geistigen Behinderung, erstellt wurde. Darin steht ausdrücklich, dass Walfried nicht auf die Psychiatrie gehört. Doch das wurde ignoriert.
„Ich musste mich beim Lesen fast übergeben“, sagt Walfried.
An die Öffentlichkeit
Walfried entschließt sich daraufhin dazu, ein weiteres Mal in seinem Leben zu kämpfen. „Die können so doch nicht davonkommen“, sagt er ernst. Im Jahr 2017 geht er mit seiner Geschichte erstmals an die Öffentlichkeit - der KURIER berichtete.
Vor zwei Wochen wurde das Land Steiermark mit Walfrieds Kindheit konfrontiert. Im Rahmen eines Aufforderungsschreibens zu einer Amtshaftungsklage wurde der Sachverhalt noch einmal detailliert geschildert.
Nun haben die Zuständigen drei Monate Zeit, um den geforderten Betrag von 500.000 Euro zu bezahlen oder es auf ein Verfahren ankommen zu lassen. „Ich glaube nicht, dass sie drei Monate brauchen, die Fakten liegen am Tisch“, sagt Drechsler. „Die sollen zahlen und froh sein, dass wir nicht in den USA sind.“
Eine weitere Sache, die Drechsler nur noch den Kopf schütteln lässt: Mittlerweile seien Aktenteile verschwunden und wichtige Textabschnitte geschwärzt worden. „Zum Glück hat Walfried alles abfotografiert.“ Es sei schlichtweg unglaublich, dass man den armen Mann nicht einmal jetzt aufhört zu quälen. Auch die zuständige Clearingstelle könne die Frage nicht beantworten, warum Teile verschwunden oder unleserlich gemacht wurden. Ende 2017 hätten sie den Akt bereits so von der Bezirkshauptmannschaft erhalten.
Besonders grausamer Fall
Keine Summer der Welt würde das Geschehene gut machen, aber mit dieser Summe könnten Walfried und seine Familie gut weiterleben, er könnte seinen Kindern einen besseren Start ins Leben schenken. „Umgerechnet sind das übrigens rund 80 Euro für jeden Tag, den ich bei diesem Monster verbringen musste.“
„Das ist kein Heimskandal, das ist ein Jugendamt-Skandal“, sagt Drechsler. Walfried werde nämlich gerne in die Heimkind-Ecke als einer von vielen geschoben. „Aber sein Fall ist ganz anders und besonders grausam“, sagt Drechsler.
„Ich hab mich ewig geschämt für meine Geschichte. Jetzt tu ich das nicht mehr“, sagt Walfried bestimmt. An all’ die Schläge gewöhne man sich mit der Zeit. Aber das Schlimmste sei, dass er bisher nie eine Chance von der Gesellschaft bekommen hat.
Bis zum Erscheinen des Artikels hat der KURIER trotz mehrmaligem Anfragen kein Statement vom Land Steiermark zur Causa erhalten.
Ab heute sind sämtliche Akten aus Walfrieds Jugendamtsakt und ebenso das Aufforderungsschreiben an das Land Steiermark online unter www.ueberlebt.at abrufbar.
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