Missbrauch an Wiener Schulen: "Es ist noch immer ein Tabu-Thema"
Seit 2017 ist Heinrich Himmer im Amt – und hat als Bildungsdirektor (früher: Stadtschulratspräsident) seither eine Unzahl an Herausforderungen zu bewältigen – von Corona über die Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen in den Schulen bis zum Lehrermangel.
Im Gespräch mit dem KURIER nimmt er auch zum Missbrauchsskandal rund um einen Wiener Lehrer Stellung. Erst gestern erhob ein Betroffener im Interview mit der Austria Presse Agentur schwere Anschuldigungen gegen die Behörden. Der Bildungsdirektor will mit seiner Untersuchungskommission „die Verantwortlichkeiten“ aufdecken, sagt er.
KURIER: Ein Opfer erzählt im Interview, wie sich der Lehrer ihm bei einer Lesenacht in der Schule, als alle schliefen, angenähert habe. Er berichtet, wie der Lehrer mit den Kindern geduscht habe – und sich gefreut habe, dass er „die Kinder abtrocknen darf“. Welches Gefühl löst das bei Ihnen aus, wenn Sie so etwas hören?
Heinrich Himmer: Ein ganz schlimmes. Nicht nur als Bildungsdirektor, sondern auch als Vater. Das gehört zu den schlimmsten Dingen, die an einem Ort passieren können, von dem wir als Gesellschaft darauf vertrauen, dass nur das Beste mit den eigenen Kindern passiert. Deswegen war für uns von Beginn an klar, dass wir die Fälle nicht zu den Akten legen, auch wenn die Ermittlungsbehörden in der Justiz keine weiteren Schritte ergreifen.
Der Betroffene sagt, er fühle sich verhöhnt. Unter anderem, weil keine Ermittlungen gegen mutmaßliche Mittäter und Mitwisser laufen. Verstehen Sie das?
Ja. Aber ich betone: Wir sind nicht für die strafrechtlichen Folgen verantwortlich, ich kann diese auch nicht kommentieren. Wir sind für die schulische Aufarbeitung zuständig. Und diese muss passieren, auch wenn – oder weil – sie so schmerzvoll ist. Das sind wir zuallererst den Opfern schuldig. Aber auch allen anderen Menschen, die sich zu Recht erwarten, dass wir alles tun, damit so etwas nicht wieder passiert. Deswegen arbeitet unsere Kommission so eingehend daran.
Betroffene äußern Zweifel an der Kommission.
Ich kann versprechen, dass wir das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich will Aufklärung darüber, wo die Verantwortlichkeiten liegen. Die Kommission leistet viel, um potenzielle Straftaten auszuforschen. Sie hat Schüler angeschrieben und sie hat Sachverhaltsdarstellungen an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Wir sehen uns dabei auch genau die rechtliche Verantwortung der Mitarbeiter an.
Wie kann es sein, dass so viele Menschen in der Schule über so lange Zeit hinweg weggesehen haben?
Ich kann hier keine Anschuldigungen gegen einzelne Personen tätigen, die ich nicht beweisen kann. Aber ich bemerke in der Gesellschaft und quer durch die Institutionen, dass wir uns bei Missbrauch schwertun, die richtigen Worte zu finden – und die richtigen Handlungen zu setzen. Es ist ein Tabu-Thema. Das merke ich auch daran, dass nicht alle glücklich sind, dass wir die Kommission eingerichtet haben. Aber das akzeptiere ich nicht. Ich war auch an der Schule, wo man mit der Situation hadert. Dort fühlen sich ehemalige Kollegen des Täters selbst zum Teil als Opfer, weil sie von ihm hinters Licht geführt wurde. Für mich ist jedenfalls klar: Wegschauen darf nicht salonfähig bleiben.
Aber genau diese Kollegen waren es doch, die weggesehen haben.
Die Personen, mit denen ich gesprochen habe, zeichnen ein anderes Bild und sagen, sie stünden selbst unter Schock.
Sollten sich die Vorwürfe erhärten, können Sie dann versprechen, dass es dienstrechtliche Konsequenzen geben wird?
Ja. Darüber, was möglich ist, werden aber unsere Juristen entscheiden, nicht ich.
Blicken wir in die Zukunft: Was wollen Sie tun, damit Derartiges nicht mehr geschehen kann?
Derzeit warten wir auf den Abschlussbericht der Kommission, der noch im November fertig sein soll. Wir werden aber jedenfalls die Zusammenarbeit mit den Behörden auf neue Beine stellen. Es ist so, dass wir keine Einsicht in die polizeilichen Ermittlungsakten haben. Die Kommunikation mit der Polizei muss nachvollziehbarer und klarer werden. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Dienstrecht schon so gestaltet ist, dass es uns die Handhabe gibt, die wir in solchen Situationen benötigen. Da müssen wir diskutieren.
Was wird sich an den Schulen ändern?
Wir haben allen Wiener Schulen aufgetragen, bis Ende des Jahres eine Risikoanalyse fertigzustellen, die festmachen soll, wo es an ihrem Standort zu potenziell gefährlichen Situationen kommen kann. Etwa: Wo sind Lehrer oder Lehrerinnen mit einem Schüler oder einer Schülerin alleine? Wie gestalten wir Ausflüge oder Skikurse? Ich habe bemerkt, dass es viele Situationen gibt, die nicht geregelt sind. Und dass nicht an allen Standorten die gleiche Sensibilität für das Thema herrscht. Das müssen wir ändern, Kinderschutzkonzepte entwickeln und verbindliche Regeln festlegen. Auch um dem riesigen Teil der 27.000 Pädagoginnen und Pädagogen, die großartige Arbeit machen, Sicherheit zu geben. Es darf keine Misstrauenskultur entstehen. Das kann nur gelingen, wenn wir im Gegenzug die Falschen nicht im Schulsystem behalten.
Zu einem anderen Thema: In Wien fehlen derzeit rund 280 Lehrerinnen und Lehrer. Wie kann denn so eine Fehlplanung passieren?
Der Mangel an Mitarbeiter beschäftigt derzeit viele Branchen. Im Gegensatz zu anderen müssen wir aber immer auf Vollbetrieb fahren. Wir sind keine Fluglinie, die, weil Piloten fehlen, einfach ein paar Flüge streicht. Dass vor allem im Pflichtschulbereich das Personal knapp ist, hat auch mit den Lebensmodellen der Menschen zu tun, die sich mit dem Job nicht immer decken. Wir haben etwa junge Menschen, die berufsbegleitend studieren – und keine volle Lehrverpflichtung wollen. Damit kann das System vor allem in den Volksschulen, wo es die Klassenlehrer gibt, noch nicht umgehen. Ein weiterer Aspekt: Durch die Migration – wir haben in Wien 4.500 Menschen aus der Ukraine ins Schulsystem integriert – ist der Bedarf an Personal sprunghaft angestiegen. Ich bin stolz, wie wir das gemeistert haben.
Die Corona-Zeit war für Kinder, Lehrer und Eltern herausfordernd. Welche Lehre ziehen Sie rückblickend für das Schulsystem? Wir haben festgestellt, dass zwar die Wissensvermittlung digitalisiert werden kann, dass Bildung und Schule zugleich aber viel mehr sind als das. Es geht um das Groß- und Erwachsenwerden in der Gesellschaft, um das Diskutieren, die Beziehungsgeflechte zwischen den jungen Menschen. Demokratiebildung etwa kann man nicht auf Buchseiten drucken, man muss Partizipation erleben – etwa bei einer Klassensprecherwahl. Wir haben also gelernt: Schule wird sich nie zur Gänze digitalisieren lassen. Und das ist gut so.
Während der Krise haben wir jene jungen Menschen, die aus einem schwierigen privaten Umfeld kommen, zuerst verloren. Wir werden uns noch besser überlegen müssen, wie wir die Bildungsangebote zu den Menschen bekommen. Derzeit steht zu sehr das System im Mittelpunkt. Es geht vor allem darum, jene zu aktivieren, die nicht von selbst aufzeigen und sich nicht melden. Das ist wie im Klassenzimmer: Da arbeiten auch mehr jene mit, die die Antwort eh schon kennen. Wir brauchen mehr Angebote, alle zu beteiligen. Das Wiener Bildungsversprechen (eine aktuelle Bildungsoffensive der Stadtregierung, Anm.) ist dabei ein wichtiger Schritt.
Kann die Schule wirklich kompensieren, was das Elternhaus nicht leistet?
Nein, das können wir von den Pädagoginnen und Pädagogen in der derzeitigen Schulorganisation nicht verlangen. Zugleich ist es derzeit oft so, dass Jugendliche nur durch großes Engagement der Eltern oder durch externe Nachhilfeinstitute in der Schule bestehen können. Auch da läuft etwas falsch. Dazu wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der Bildung in unserem Land.
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