Kinder jahrelang missbraucht: Chronologie eines Systemversagens
Er war Lehrer, Basketballtrainer und Betreuer eines Feriencamps – und soll bei allen drei Tätigkeiten sexuelle Übergriffe an Jugendlichen verübt haben. Die Vorwürfe, die derzeit rund um den Missbrauchsfall eines Wiener Lehrers bekannt werden – fast täglich kommen neue Details dazu – , ziehen immer weitere Kreise.
Am Dienstag meldete sich ein neues mutmaßliches Opfer beim Ferienhort am Wolfgangsee, wie dem KURIER seitens des Ferienhorts bestätigt wird. Der Betreuer, der dort mit Unterbrechungen von 1990 bis 2010 tätig war, soll einen Jugendlichen unsittlich berührt haben. Mittlerweile ist bekannt, dass der Lehrer mehr als zwei Dutzend Buben im Alter von 9 bis 14 Jahren missbraucht haben soll. Elternbeschwerden, Hinweise von Betroffenen, Anzeigen, Einvernahmen und Ermittlungen konnten den Mann nicht stoppen. Auch zwei Mittäter soll es geben.
Harte Kritik von Opfer-Anwältin
Ebenfalls am Dienstag übte Opfer-Anwältin Herta Bauer heftige Kritik an der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) und der Bildungsdirektion Wien. Der KJA bescheinigt sie „gravierende Versäumnisse und offenkundige Rechtsunkenntnis“, der Bildungsdirektion „dienstrechtliche Verfehlungen“. Beschwerden von Schülern bzw. Opfern sei nicht nachgegangen worden.
Bildungsdirektor Heinrich Himmer habe eine „jahrelange unterlassene behördeninterne Ermittlung“ zu verantworten und „staatliche Ermittlungsbehörden“ nicht eingeschaltet, weshalb die Opfer-Anwältin seinen „sofortigen Rücktritt“ fordert. Man erwäge außerdem eine Amtshaftungsklage gegen die Bildungsdirektion sowie eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft, so Bauer in einem Schreiben an die beiden Institutionen.
Eine Chronologie dessen, was dem KURIER derzeit über den Missbrauchsskandal bekannt ist:
1990: Der mutmaßliche Täter beginnt im Ferienhort am Wolfgangsee als Betreuer zu arbeiten.
1996: Ab diesem Zeitpunkt ist er als pragmatisierter Sportlehrer an einer Wiener Mittelschule tätig. Er begleitet mehrmals auch Skikurse. Hier soll er Übergriffe verübt, Jungen mit K.-o.-Tropfen betäubt haben und ohne deren Wissen Filme und Fotos von ihnen angefertigt haben. Ab welchem Jahr er das getan haben soll, ist noch Gegenstand der Ermittlungen.
Mehrere Übergriffe
2004: Einschlägige Fotos von seinen minderjährigen Schülern werden gemacht – diese tauchen 2019 bei einer Ermittlung auf dem USB-Stick des Lehrers auf.
2006: Er soll einen 13-Jährigen im Ferienhort massiert haben und ihm dabei körperlich zu nahe gekommen sein. Der Junge spricht zunächst nicht darüber.
2009: Der Lehrer organisiert eine Lesenacht an der Schule, auch dort soll es zu Übergriffen gekommen sein. Auch das wird erst später bekannt.
2013: Der Jugendliche aus dem Ferienhort entschließt sich sieben Jahre später zu einer Anzeige. Der mutmaßliche Täter wird von der Polizei in Baden einvernommen – dies bleibt aber ohne Konsequenzen. Der Ferienhort gibt an, nie von der Anzeige unterrichtet worden zu sein. Die Polizei erklärt hingegen, den Akt nach Salzburg oder Oberösterreich geschickt zu haben. Da der Lehrer mittlerweile tot ist, kann laut Polizei aber nicht mehr nachvollzogen werden, was mit dem Akt passiert ist. Das Justizministerium gibt an, dass es dazu kein Ermittlungsverfahren gegeben habe.
Herbst 2018: Der Hauptverdächtige soll einen befreundeten Lehrer zum Wiener Basketballverein gebracht haben. Dieser musste zuvor wegen eines Missbrauchsvorfalls den Schuldienst quittieren – die Ermittlungen in diesem Fall wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt, weswegen er im Basketballverein unterkommen konnte. Er kommt dabei einem Burschen unangemessen nahe.
Die Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) wird vom Verein über den Vorfall informiert. Mit dem mutmaßlichen Mittäter wird eine Vereinbarung getroffen, dass er Kinder unter 14 Jahren nicht mehr trainieren darf; im Gegenzug wird keine Anzeige erstattet. Er hält sich aber nicht daran. Der Vorfall wird an die Polizei übergeben, diese startet Erhebungen. Gegenüber der APA sagt die Staatsanwaltschaft, dass sie über diese Ermittlungen nie informiert wurde. Die Polizei gibt hingegen an, einen Abschlussbericht und Unterlagen des Basketballverbandes im Oktober 2019 an die Staatsanwaltschaft übermittelt zu haben.
Hausdurchsuchung
April 2019: Ein Junge wacht vorzeitig auf, nachdem er von dem Lehrer mit K. O.-Tropfen betäubt worden war. Es kommt zu einer Anzeige.
Mai 2019: Die Wohnung des Lehrers wird durchsucht. Es wird kinderpornografisches Material auf diversen Datenträgern des Lehrers gefunden. Der begeht daraufhin Selbstmord. Die Schule soll Mitte Mai von der Polizei über die Ermittlungen informiert worden sein. Die Schule will erst Mitte Oktober davon erfahren haben.
Juni 2019: Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft werden nach dem Freitod des Sportlehrers zunächst eingestellt.
Sommer 2019: Ein Zeuge und dessen Mutter beschweren sich bei der Bildungsdirektion über den Schulleiter, weil schulintern nichts unternommen wurde.
Dezember 2019: Ein Elternabend wird von der Schule einberufen. Erst auf Nachfrage der Eltern soll diesen mitgeteilt worden sein, dass der Pädagoge Kinder mit nach Hause genommen haben soll. Eine Person wendet sich an die Kinder- und Jugendanwaltschaft und zeigt sich besorgt über die Art der Kommunikation der Schule. Die Einrichtung einer Kommission von KJA und Bildungsdirektion wird vereinbart, aber pandemiebedingt nicht sofort eingerichtet.
Oktober 2021: Der Bildungsdirektion wird nach eigener Angabe von der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass keine Anhaltspunkte für die Existenz von Mittätern vorliegen. Mittlerweile wird von mindestens zwei Mittätern ausgegangen, einen davon soll der Lehrer auch in den Ferienhort mitgenommen haben.
Ermittlungen laufen
Mai 2022: Der Fall wird in der Öffentlichkeit bekannt.
Oktober 2022: Die Ermittlungen laufen. Noch ist unklar, wie weit sich der Fall noch ausweiten wird.
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