66.000 Deutschkursplätze finanzierte der ÖIF im vergangenen Jahr – und laut Integrationsfonds werden es mehr Menschen, die in diesen Kursen überhaupt einmal alphabetisiert werden müssen. Zwischen 2015 und 2022 ist ihre Zahl von 288 auf 11.859 gestiegen (siehe Grafik).
Zum Vergleich: Ende 2015 waren insgesamt 78.064 Personen in Grundversorgung, per 1. Dezember 2022 waren es 92.561. Das heißt, der Anteil jener, die Grund- oder Zweitsprachen-Alphabetisierung benötigen, ist in dieser Zeit von 0,37 Prozent auf 12,8 Prozent gestiegen.
Lateinische Buchstaben
Wie viele Teilnehmer tatsächlich die Grund-Alphabetisierung in Anspruch genommen haben – also wie viele bei ihrer Ankunft in Österreich weder schreiben noch lesen können – und wie viele lediglich an lateinische Buchstaben angelernt werden müssen, konnte der ÖIF auf KURIER-Anfrage nicht ausweisen.
Laut Integrationsfonds lag der Anteil jener, die erst lesen und schreiben lernen müssen, in den Jahren 2021 und 2022 bei 48 Prozent; jener, die in der Zweitsprache alphabetisiert werden mussten, bei 52 Prozent.
Fast jeder Zweite
Deutliche Unterschiede gibt es zwischen Männern und Frauen: Während der Anteil der Männer, die eine Alphabetisierung benötigten, 2019 bei 41 Prozent lag, stieg er bis 2022 auf 70 Prozent an. Bei den Frauen ist die Zahl im Vergleich konstant geblieben (2019: 54 Prozent; 2022: 57 Prozent).
Auch im Raum 2436 in der Kempelengasse sitzen beim KURIER-Besuch vor allem Männer. Zwölf sind es insgesamt, alle kommen aus Syrien, alle bis auf einen haben die Schule besucht. Seit drei Wochen sind die meisten von ihnen in Wien, seit drei Wochen besuchen sie den Deutschkurs.
An der weißen Tafel hängen Bilder von Gemüse, bunte Kärtchen mit Zeitangaben (morgen, heute, gestern), auf einem Flipchart wurden die Wochentage notiert und der Lehrer, Herr Wendy, hält Kärtchen in die Höhe. Von einer Waschmaschine, einem Kühlschrank, einem Pappkarton. Die Schüler sprechen nach, was sie sehen. Manchmal schlechter, manchmal besser.
Buchstaben lernen, Silben verbinden und dann Wörter erkennen – anhand von Bildern und anhand des Schriftbildes – das ist das, was Herr Wendy seinen Schülern lehren muss. Erst, wenn sie das beherrschen, können sie weiterführende Deutschkurse besuchen.
Zu diesem Thema ist der Integrationsfonds etwa auch mit dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Austausch. Dort, heißt es vom ÖIF, würden 20 Prozent der Zweitschriftlernenden und 18 Prozent der Analphabeten das Deutsch-Niveau B1 erreichen. Vergleichbare Zahlen aus Österreich gibt es noch nicht.
Dass nun mehr niedrig gebildete Geflüchtete nach Österreich kommen, ist laut Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien "nicht verwunderlich": Die Instabilität in Syrien begann im Jahr 2011, dauert also seit mittlerweile elf Jahren an.
Das Schulwesen ist dadurch beeinträchtigt. "Am Anfang begibt sich eher die gebildete Mittelschicht auf den Weg", sagt Kohlenberger. Jene also, die das Ausmaß der Instabilität im eigenen Land abschätzen – und sich eine Flucht leisten können.
"Je länger Krieg und Instabilität andauern, desto eher flüchten auch Menschen, die weniger gebildet und sozioökonomisch schlechter gestellt sind", sagt Kohlenberger. Dazu komme, dass viele, die jetzt nach Europa kommen, schon jahrelang auf dem Balkan unterwegs waren. "Ein bisschen ist das also auch dem Fluchtregime Europas zuzuschreiben", sagt die Wissenschafterin.
Als Reaktion auf die gestiegene Zahl der niedrig gebildeten Kursteilnehmer hat der Integrationsfonds mittlerweile die Zahl der Kurse erhöht und ein eigenes Alphabetisierungs-Curriculum mit Expertinnen und Experten ausgearbeitet. Außerdem wurden die vorgesehen Kurseinheiten für Analphabeten von 240 auf 480 erhöht.
"Der entscheidende Punkt ist aber das Selbststudium", sagt Carla Pirker vom Integrationsfonds. Dafür gibt es auf der Website des ÖIF auch Selbstlernmaterialien, Videos und die Möglichkeit, an Deutschgruppen teilzunehmen.
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