Gewalt an Frauen: "Wir müssen ein Bewusstsein für toxische Männlichkeitsnormen schaffen"
Nach einem Vierteljahrhundert hat Maria Rösslhumer die Geschäftsführung der Autonomen Frauenhäuser übergeben. 26 Jahre lang war sie dort tätig und hat jede Weiterentwicklung sowie auch jeden Rückschlag im österreichischen Gewaltschutz miterlebt. Sie will weiterhin gegen Gewalt an Frauen kämpfen und widmet sich nun anderen Projekten.
KURIER: Sie haben im Juli 1997 begonnen, für den Verein AÖF - Autonome Österreichische Frauenhäuser - zu arbeiten. Gerade als das Gewaltschutzgesetz in Kraft trat. Wie hat sich dieses Gesetz damals auf die Gewaltprävention ausgewirkt?
Maria Rösslhumer: Das war eine sehr revolutionäre Zeit für uns. Das Gewaltschutzgesetz, das im Mai 1997 in Kraft trat, markierte einen Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. Zum ersten Mal erhielten Frauen das Signal, dass der Staat sie in ihrer Privatsphäre schützen würde. Betretungsverbote und Wegweisungen waren entscheidende Instrumente, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Männer mussten das eigene Zuhause verlassen und Sanktionen erfahren, wenn sie Gewalt ausübten.
Wie hat sich die Situation im Laufe der Jahre entwickelt?
In den folgenden Jahren wurden viele gesetzliche Verbesserungen und Novellierungen vorgenommen. Gewaltschutzzentren wurden etabliert, Frauenhäuser sukzessive ausgebaut. Im Opferschutz wurde die kostenlose juristische und psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren eingeführt, da bewundern uns andere Länder dafür. Auch die Ratifizierung der Istanbul-Konvention im Jahr 2013 war ein wichtiger Meilenstein. Im Grunde genommen haben wir permanent Maßnahmen geschaffen.
Trotz all dieser Maßnahmen ist Gewalt gegen Frauen immer noch ein großes Problem in Österreich. Warum ist das so?
Das ist ein komplexes Thema mit vielschichtigen Ursachen. Einerseits hat sich politisch viel verändert, insbesondere seit 2018. Eine spürbare Frauenverachtung und die mangelnde Gleichstellung zwischen Frauen und Männern spielen eine entscheidende Rolle. Solange Frauen nicht gleichberechtigt sind und mit strukturellen Hindernissen wie ungleicher Bezahlung und mangelnder Vereinbarkeit von Familie und Beruf konfrontiert sind, wird Gewalt gegen Frauen weiterhin ein Problem sein.
Viele Menschen verstehen den Zusammenhang zwischen Gleichstellung und Gewaltprävention nicht. Könnten Sie das näher erläutern?
Die mangelnde Gleichstellung führt dazu, dass Frauen oft in Abhängigkeitsverhältnisse geraten, die sie anfälliger für Gewalt machen. Darüber hinaus werden Frauen in unserer Gesellschaft oft für Gewaltakte verantwortlich gemacht oder ihnen wird geraten, sich besser zu verteidigen, anstatt die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Solange diese Einstellung besteht, wird sich wenig an der Situation ändern. Wir sind in Österreich leider sehr weit entfernt von einer echten Gleichstellung. Obwohl es die Istanbul-Konvention so klar und deutlich vorgibt. Solange es keine wirkliche Gleichstellung von Frauen und Männern gibt, wird auch die Gewalt gegen Frauen nicht zurückgehen.
Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Es schafft verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. Am 11. Mai 2011 wurde das Übereinkommen von 13 Staaten, unter anderem auch Österreich, in Istanbul unterzeichnet.
Die Konvention ist das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument zur umfassenden Bekämpfung aller Formen von Gewalt an Frauen in Europa. Daher sind Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, zur Umsetzung verpflichtet. Österreich ratifizierte die Konvention am 14. November 2013, am 1. August 2014 trat sie in Kraft.
Die Konvention umfasst alle Formen von Gewalt gegen Frauen inklusive traditionsbedingte Gewaltformen wie weibliche Genitalverstümmelung und Zwangsheirat sowie häusliche Gewalt mit besonderem Augenmerk auf deren geschlechtsspezifische Komponente.
Wenn wir ein System hätten, in dem Frauen mehr verdienen würden oder in dem sie weniger Teilzeit arbeiten würden, dann gäbe es also weniger Gewalt gegen Frauen?
Absolut. Strukturelle Ungleichheiten, wie ungleiche Bezahlung und berufliche Benachteiligung von Frauen, führen oft dazu, dass Frauen ökonomisch abhängig sind und in einer schwächeren Position in Beziehungen stehen. Dieses Ungleichgewicht kann die Wahrscheinlichkeit von Gewalt erhöhen, da Täter Machtmissbrauch betreiben, wenn sie sehen, dass die Frau keine finanzielle Unabhängigkeit hat und von ihnen abhängig ist. Sie ist damit die schwächere Person in der Beziehung. Dadurch fällt es ihr viel schwerer, ihn zu verlassen. Außerdem werden Frauen oft als Familienzerstörerinnen oder Rabenmütter bezeichnet, wenn sie sich trennen. Zudem beobachten wir einen klaren Trend, dass Frauen, insbesondere Akademikerinnen, nach der Geburt von Kindern beruflich zurücktreten oder Teilzeitarbeit aufnehmen, was zu einem Verlust an Einkommen und Karrierechancen führt.
Sie betonen immer wieder, dass eine Primärprävention dringend erforderlich ist. Was ist damit gemeint?
Primärprävention ist entscheidend, um das Fundament für einen langfristigen Wandel zu legen. Dazu gehört vor allem die Aufklärung und Sensibilisierung in der Gesellschaft, um die Wurzeln von Geschlechterungleichheit und patriarchalen Strukturen anzugehen. Wir müssen uns grundlegend ändern, weg von den alten Rollenbildern, weg von den alten Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern. Die Menschen sollen schon im Kindesalter lernen, was Gewalt überhaupt ist und wo sie bereits beginnt. Wir brauchen dazu mehr Geld für den Gewaltschutz. Wir brauchen auch mehr Investitionen in Gemeinwesenarbeit, um lokale Gemeinschaften zu mobilisieren und ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen. Hier möchte ich auch StoP nennen, ‚Stadteile ohne Partnergewalt‘. Ein Projekt, das die zivile Bevölkerung zum Thema Männergewalt sensibilisiert und zu Zivilcourage ermutigt.
Sie haben „StoP- Stadtteile ohne Partnergewalt“ im Jahr 2019 nach Österreich gebracht.
Genau. Und innerhalb von 5 Jahren haben wir die Gemeinwesenarbeit und Nachbarschaftsarbeit gegen Partnergewalt und Femizide in 9 Bundesländern und an 30 Standorten ausgebaut. Mein oberstes Ziel und meine Vision ist es, die StoP-Gemeinwesenarbeit flächendeckend auszurollen, damit Gewalt an Frauen und Kinder keinen Platz und Raum mehr hat, damit ein fundamentaler „Klimawandel“ in der Gesellschaft gegen das Patriarchat stattfinden kann. Ich habe auch den Begriff „feministische StoP-Männerarbeit“ geprägt und in Österreich etabliert.
Wie stehen Sie zu der Aussage der Frauenministerin, dass das Budget für den Gewaltschutz doch stark erhöht wurde?
Es ist positiv, dass das Budget erhöht wurde, aber wir brauchen noch mehr finanzielle Mittel, um die Istanbul-Konvention vollständig umzusetzen und alle erforderlichen Kriterien zu erfüllen. Das aktuelle Budget reicht nicht aus, um die dringend benötigten Maßnahmen zur Gewaltprävention und Opferunterstützung zu finanzieren. Wir müssen viel Geld in die Primärprävention investieren. Wir müssen die Einstellung der Menschen ändern. Solange sie immer noch glauben, dass es akzeptabel ist, wenn Männer aggressiv und dominant sind, wird sich nichts ändern.
Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor, um Männer zu verändern?
Es gibt mehrere Ansätze, die wir verfolgen sollten. Zunächst einmal müssen wir in der Gesellschaft ein Bewusstsein für toxische Männlichkeitsnormen schaffen und Männer ermutigen, sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Das erfordert eine breite Aufklärungskampagne, die in Schulen, Organisationen und Unternehmen stattfindet. Politische Führungskräfte, darunter auch Männer, müssen dabei eine Vorbildrolle einnehmen und klare Botschaften gegen Gewalt und für Gleichberechtigung senden. Kein Platz für Sexismus, nirgends. Das beginnt schon bei einem kleinen Witz im Büro, der nicht mehr zeitgemäß ist.
Sie sprechen von der Notwendigkeit positiver männlicher Vorbilder. Wie könnte man diese in der Gesellschaft fördern?
Wir müssen ein Multiplikatorensystem schaffen, in dem Männer, die sich bereits für Gleichstellung und Gewaltprävention engagieren, andere Männer motivieren und unterstützen. Das kann durch gezielte Schulungen, Seminare und Aufklärungsarbeit geschehen. Auch politische Maßnahmen wie finanzielle Unterstützung für Männerprojekte und die Einbindung von männlichen Vorbildern in öffentliche Kampagnen sind entscheidend. Die Politik muss eine führende Rolle bei der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und Gewaltprävention einnehmen. Es ist wichtig, dass alle Ministerien und Regierungsebenen zusammenarbeiten, um einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen.
- Frauenhelpline unter 0800/222555
- Frauennotruf unter 01/717119
- Notrufberatung unter 01/5232222
Haben Sie Beispiele für Länder, die Ihrer Meinung nach gute Arbeit im Bereich Gewaltprävention und Geschlechtergerechtigkeit leisten?
Ein Beispiel ist Spanien. Dort wurde mit dem Gewaltschutzgesetz von 2004 ein wegweisender Schritt gemacht, um Frauen gezielt vor Gewalt zu schützen. Dieses Gesetz war genderspezifisch und hat klare Maßnahmen ergriffen, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Darüber hinaus wurden bundesweit eigene Sondergerichte für häusliche Gewalt etabliert und umfangreiche verpflichtende Schulungen für Richterschaft, Staatsanwaltschaft und andere Behörden durchgeführt, um sicherzustellen, dass Frauen angemessen unterstützt werden. Solche ganzheitlichen Ansätze können dazu beitragen, das Vertrauen der Opfer in das Justizsystem zu stärken. Deshalb wenden sich Betroffene eher an die Polizei.
Welche weiteren Maßnahmen hat Spanien ergriffen, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen?
Spanien hat mehrere Maßnahmen ergriffen, darunter die Einrichtung einer eigenen Femizid-Beobachtungsstelle, die Einführung der elektronischen Überwachung für gewisse Gefährder und die Integration von Unterrichtsfächern zum Thema Geschlechtergewalt in Schulen. Diese Schritte signalisieren ein starkes Engagement, um Frauen zu schützen. Trotz Rückschlägen, die es in Spanien auch immer wieder gab, bleibt das Bewusstsein für feministische Anliegen in den Köpfen der Menschen präsent und treibt den Fortschritt voran.
Maria Rösslhumer absolvierte das Studium für Politikwissenschaft und Frauenforschung. Seit 1997 war sie Angestellte und von 1998 bis Ende 2023 Geschäftsführerin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF), Leiterin der Frauenhelpline gegen Gewalt (0800/222 555), von 2000 bis 2023 Leiterin der Onlineberatung Helpchat www.haltdergewalt.at.
1998 bis 2017 war sie Leiterin und Geschäftsführerin des Vereins WAVE (Women Against Violence Europe), des Europäischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Vorstandsmitglied des Österreichischen Frauenrings und Mitgründerin des Vereins OBRA.
Gründerin und Koordinatorin von StoP-Stadtteile ohne Partnergewalt in Österreich, 2023 Gründerin von Bakhti-Empowerment-Zentrum für Mädchen, externes Programm für Burschen im 15. Wiener Gemeindebezirk, Autorin, Trainerin, Gender- und Gewaltschutzexpertin. Seit 1. März 2024 Vorsitzende des neuen Vereins StoP Stadtteile ohne Partnergewalt.
Welche Herausforderungen bestehen noch im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen?
Eine große Herausforderung besteht darin, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung durch potenzielle Täter angemessen einzuschätzen. Oft werden Warnzeichen ignoriert oder nicht ernst genommen, was dazu führt, dass Frauen nicht ausreichend geschützt werden. Außerdem braucht es die systematische und einheitliche Anwendung von Gefährlichkeitseinschätzungen von Polizei und Justiz, sicherheitspolizeiliche Fallkonferenzen mit verstärkter Qualitätssicherung dieser. Es muss sichergestellt werden, dass Maßnahmen zur Gewaltprävention tatsächlich wirksam sind und dass der Schutz von Frauen und Kindern oberste Priorität hat. Frauenhäuser sind lebensrettend wichtig, aber der Staat muss alles tun, dass Frauen und Kinder sicher zu Hause leben können und nicht flüchten müssen.
Wie kann die Integration von Männern mit migrantischem Hintergrund verbessert werden?
Eine Möglichkeit ist die Einführung verpflichtender und länger andauernder Integrationsprogramme, die auf die intensive Vermittlung von Lebensnormen und Respekt für Frauenrechte abzielen. Diese Programme sollten nicht nur theoretisch sein, sondern auch praktische Unterstützung und Zukunftsperspektiven bieten und die Einbeziehung aller Männer in den Prozess der Gleichstellung ermöglichen. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass sich sehr viele Männer mit Migrationshintergrund sehr gut integrieren wollen und Frauenrechte schätzen.
Kommentare