Eltern am Rande der Verzweiflung: Wenn das Baby ständig brüllt
Das Gesicht ist hochrot, die kleinen Fäuste geballt, die Stimme verzweifelt und schrill. Die Muskeln sind angespannt, der Körper steif wie ein Brett. Wenn sie jetzt nicht wohin geht, drückt sie dem Kind den Polster ins Gesicht.
Gedanken wie diese sprechen Eltern von Schreibabys nicht aus. Sie versuchen in der Regel alles, um ihre Kinder zu beruhigen. Was also tun, wenn nichts mehr hilft?
Sie setzen sie auf die Waschmaschine, fahren im Auto, schaukeln sie. Bei Schreibabys nützen diese Maßnahmen nur in seltenen Fällen, weiß Christine Sonn-Rankl, Mitbegründerin der Schreiambulanz in der Klinik Ottakring. Dort werden sogenannte Schreibabys behandelt.
„Von exzessivem Schreien spricht man, wenn das Kind mindestens drei Stunden am Tag, mehr als drei Tage in der Woche und länger als drei Wochen schreit“, erklärt die Psychologin. Im Vorjahr wurden 110 Babys in der Ambulanz betreut, neben der Schreiproblematik klagten Familien häufig über Fütter- und Schlafschwierigkeiten.
Keine Selbstregulation
Warum schreien manche Säuglinge mehr als andere? „Diese Babys sind leicht irritierbar und fallen oft von einem Moment zum anderen in eine fast unberuhigbare Schreiattacke. Diese Kinder können außerdem nur schwer einschlafen und sich selbst regulieren“, sagt Sonn-Rankl.
Um der Ursache auf den Grund zu gehen, vereinbart die Expertin zunächst ein Erstgespräch mit der Familie. „Ich achte dabei auf das Zusammenspiel des kindlichen und elterlichen Verhaltens.“ Anhand eines Protokolls sollen die Eltern den Alltag festhalten, wann das Kind schläft, wann es schreit, wann es wach ist.“ Basierend darauf werden Maßnahmen ergriffen.
Für Eltern ist das penetrante Schreien ihrer Kinder extrem belastend, sagt Hannes Kolar, Leiter des Psychologischen Dienstes der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) in Wien.
Depression nach Geburt
Viele fühlen sich ohnmächtig und hilflos. 15 bis 20 Prozent aller Mütter leiden außerdem an postpartaler Depression, also an einer psychischen Erkrankung, die viele Mütter nach der Geburt betrifft.
Zu Überforderung komme es zudem häufig, wenn die Mutter selbst aus einem belasteten Umfeld komme. „Einige Eltern werden durch das Geräusch getriggert, weil sie selbst als Kind angeschrien wurden. Die wechseln in den Kampf- und Verteidigungsmodus“, so der Psychologe. Dieser Kampfmodus könne auch so weit gehen, dass Eltern ihr Kind schütteln.
So geschehen Anfang Februar in Wien. Eine 26-jährige Mutter brachte ihren drei Monate alten Säugling ins Spital. Das Baby war geschüttelt worden und starb. Die Eltern wurden wegen Mordverdachts festgenommen.
OGH änderte Strafen für Paar
Auch gegen ein Salzburger Paar war deswegen ermittelt worden. Die heute 21-jährige Mutter soll ihren Sohn im Oktober 2022 sieben- bis zehnmal geschüttelt haben, damit er zu schreien aufhörte. Das Kind erlitt dabei schwere Hirnverletzungen und starb. Im August 2023 waren beide Eltern schuldig gesprochen worden. Die Mutter erhielt 16 Jahre unbedingt Haft, der Vater zwölf Jahre. Wie erst vor wenigen Tagen bekannt wurde, hat der Oberste Gerichtshof (OGH) die Strafen geändert: Die Mutter muss nun rechtskräftig 18 Jahre in Haft, der Vater zehn Jahre.
Schütteltraumata sind bei Säuglingen die häufigste nicht natürliche Todesursache. 10 bis 30 Prozent aller betroffenen Kinder sterben. Zwei Drittel der Babys überleben, leiden aber ihr Leben lang an Krampfanfällen, körperlichen und geistigen Behinderungen sowie Sehstörungen.
Was passiert, wenn man Kinder einfach schreien lässt?
Aber nicht nur Schütteln hat Auswirkungen auf Säuglinge, auch das Schreien verlangt den Neugeborenen einiges ab. Besonders dann, wenn Eltern auf Erziehungsmaßnahmen zurückgreifen, die früher empfohlen wurden: Kinder einfach schreien zu lassen, bis sie von selbst wieder damit aufhören.
„Wenn Eltern ihre Kinder wiederholt über einen langen Zeitraum ohne Beziehungsangebot – zum Beispiel körperliche Nähe – schreien lassen und diese dann aufhören, handelt es sich um einen Schutzmechanismus des Körpers“, erklärt Kolar.
Teile des Gehirns drehen sich ab
Beim Schreien sei die Herzrate höher, es werde viel Blutzucker ausgestoßen. Es komme daraufhin zu einer neuronalen Reizüberlastung, Teile des Gehirns drehen sich ab und Kinder würden relativ rasch in Dissoziationen gehen.
„Sie sind dann oft wie weggetreten oder erstarrt“, so Kolar. Viele Krankheitsbilder, wie Persönlichkeitsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder Bindungsstörungen können dem Psychologen zufolge durch fehlende Regulation durch die Eltern ihren Ausgang nehmen.
Dass Babys in den ersten drei Monaten viel schreien, ist aber nichts Außergewöhnliches: Rund 15 Prozent aller Säuglinge haben im Schnitt eine Schrei-Symptomatik. „Das geht in der Regel vorbei“, so Sonn-Rankl. Tritt dann aber keine Besserung ein, sollte eine weitere Abklärung erfolgen.
In Wien gibt es folgende Einrichtungen: Die Baby-Care-Ambulanz in der Klinik Favoriten, die Säuglingspsychosomatik in der Klinik Ottakring und das Eltern-Kind-Zentrum Nanaya in Neubau
Unterstützung bei der MA 11
Erschöpfte Eltern können sich auch an die Kinder- und Jugendhilfe MA 11 wenden: +43 1 4000-8011
Die goldene Regel
Was können Eltern also tun? Die Mitbegründerin der Schreiambulanz empfiehlt die 1,5-Stundenregel – für Säuglinge ab der dritten Woche. „Nach 1,5 Stunden Wachzeit sollten Kinder schlafen. Zwischen den Mahlzeiten sollten 1,5 Stunden Pause eingehalten werden“, rät Sonn-Rankl.
Einer der wichtigsten Ratschläge, den sie betroffenen Eltern mitgibt: „Sie sind nicht schuld daran, dass ihr Baby schreit. Niemand braucht sich zu schämen, wenn er überfordert ist und Hilfe braucht.“
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