Die Richter und ihre Hausgutachter

Rosina Roth braucht seit acht Jahren den Rollstuhl
Unfallopfer in der Justizmühle: Das Zusammenspiel zwischen Richtern, Sachverständigen, Versicherungen.

Der Kärntner Unfallchirurg Z. (Name der Redaktion bekannt) beurteilt als Gerichtssachverständiger die körperlichen Schäden, die ein Unfallopfer erlitten hat. Auf seine Expertise stützt ein Richter sein Urteil, mit dem er die geforderte Entschädigung bzw. Unterstützung anerkennt oder – wie in den allermeisten Fällen – abweist.

Der Chirurg kennt die Problematik von beiden Seiten: Seit einem Unfall vor 20 Jahren auf dem Weg zur Arbeit, bei dem ihm eine Schulter zertrümmert sowie die Wirbelsäule und der Kopf verletzt wurden, kämpft er mit der AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) um angemessene Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Derzeit beträgt diese Rente monatlich 200 Euro.

Z. kritisiert seine Kollegen, weil sie für die AUVA als Spitalsärzte (oder Privatgutachter) arbeiten und Opfer behandeln, deren Ansprüche gegenüber der AUVA sie gleichzeitig beurteilen (und kleinreden). Und er kritisiert die Richter, die immer dieselben Gutachter beauftragen, die ihnen mit einem erwartbaren Ergebnis am wenigsten Arbeit machen. Das hat dem Arzt zwei Klagen von Kollegen und eine Anzeige bei der Ärztekammer eingetragen, weshalb er seinen Namen nicht genannt wissen will.

Alkolenker

Ein plastisches Bild des Zusammenspiels zwischen Unfallversicherung, Gutachtern und Richtern gibt der Fall Rosina Toth (der KURIER berichtete) ab. Die frühere Judo-Staatsmeisterin wurde 2009 auf ihrem Weg zur Arbeit von einem alkoholisierten Lenker gerammt. Dieser wurde wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu einer teilbedingten Haftstrafe und zur Zahlung von 5000 Euro Schmerzensgeld verurteilt.

Die 54-Jährige klagte daraufhin bei der AUVA – als zuständige Versicherung für Unfälle bei der Arbeit oder auf dem Weg dorthin – Versehrtenrente ein. Aber der beim Arbeits- und Sozialgericht Wien zuständige Richter Gustav Schneider sieht den Fall ganz anders als sein Kollege beim Strafgericht. Es habe sich um einen "verhältnismäßig glimpflichen Unfall" gehandelt, der "keine dauerhaften Folgen hinterlassen" und daher keinen Rentenanspruch begründen würde.

Dass Rosina Toth seit dem Unfall an Schwindel leidet, häufig ohnmächtig wird, sich bis zu 20-mal am Tag erbricht und meist auf den Rollstuhl angewiesen ist, wurde in Gutachten als Simulation gewertet.

Die Abweisung der Klage beim Arbeits- und Sozialgericht – Rosina Toth zum KURIER: "Ich komm mir wie eine Bettlerin vor" – veranlasste die Strafjustiz, den Prozess gegen den Alkolenker neu aufzurollen. Womöglich handelte es sich bloß um ein geringeres Verschulden, und der Verurteilte kann von seinem Opfer die 5000 Euro zurückfordern. Dazu soll sich Rosina Toth nun erneut von einem Sachverständigen untersuchen lassen, den sie schon kennt: Der HNO-Arzt Michael Zrunek hat ihr bereits einen "unauffälligen Befund" attestiert und mit seinem Gutachten dafür gesorgt, dass ihr der Arbeitsrichter Schneider null Prozent Versehrtenrente zuerkannt hat. Unschwer vorherzusagen, dass Zrunek seiner eigenen Begutachtung nun wohl kaum widersprechen wird.

Warum schon wieder Zrunek? Warum immer die selbe Handvoll Gutachter? "Weil die Richter jene bevorzugen, mit denen es am einfachsten geht", sagt der Unfallchirurg und Sachverständige Z.: "Wenn im dreiseitigen Gutachten steht: ’Der hat nix’ oder: ’Da ist alles gleich geblieben’, weist der Richter ab und ist schneller fertig."

Das freut natürlich die AUVA, die Richter wie Gustav Schneider gern als Vortragende bei ihren Fachsymposia beschäftigt. Wenn der Justizminister kürzlich in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung bekundet, dass "die Richter des Arbeits- und Sozialgerichts Wien keinerlei Nebenbeschäftigungen im Rahmen von Veranstaltungen bzw. im Auftrag der AUVA" ausüben, dann irrt er. Richter Schneider hielt (zumindest) 2015 und 2017 Vorträge für die AUVA, unter anderem zum Thema: "Ärztliches Maß für das Gericht".

Gütesiegel

"Wie weit darf Naheverhältnis gehen?", fragt sich auch der Klagenfurter Rechtsanwalt Hans-Herwig Toriser. Im Prozess gegen einen Pistenbetreiber um einen Skiunfall, den sein Mandant erlitten hatte und auf mangelnde Absicherungen zurückführte, lehnte er einen Ski-Sachverständigen als befangen ab. Der Gutachter hatte einige Jahre lang als Mitglied der Kommission gearbeitet, die das Pistegütesiegel zuerkennt. Und nun sollte er in seinem Gutachten die Sicherheitsvorkehrungen kritisch hinterfragen, die er einst für optimal befunden hatte? "Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht", stellt Toriser in den Raum.

Der Richter befand, das sei schon lange her, und sah keine Befangenheit des Gutachters.

Keine Kontrolle

In seinem 2015 erschienenen „Schwarzbuch Versicherungen – Wenn Unrecht zu Recht wird“ (Mandelbaum) beschreibt der Journalist Franz Fluch fünf Opfergeschichten. Allen voran jene von Adolf Stifter, der seit über 40 Jahren mit der AUVA vergeblich um Versehrtenrente kämpft. Kernpunkt sind die Gutachten, für die es in Österreich weder unabhängige Kontrolle noch Qualitätsstandards gibt wie in anderen Staaten. Die Gerichtspsychiaterin Gabriele Wörgötter hat 100 zufällig ausgewählte Gutachten in Sozialrechtsverfahren analysiert und festgestellt, dass jedes zweite ohne Untersuchung verfasst wurde.

Wer einmal (nach „Prüfung“ durch zwei Kollegen und einen Richter) auf der Sachverständigenliste steht, hat wegen fachlicher Mängel aber wenig zu befürchten. Jüngst wurde ein Sachverständiger für das Fachgebiet Eishockey wegen 33 Geschwindigkeitsübertretungen aus der Liste gestrichen.

Eine österreichische Eigenheit bei der Beurteilung von Unfallschäden sind auch die sogenannten Überschneidungen. Beim Kärntner Unfallchirurgen Z., der mit seinem Wagen gegen die Mittelleitschiene katapultiert worden war, stufte ein Kollege aus seinem Fachgebiet die Funktionseinbußen durch Verletzungen an den Gelenken mit 40 Prozent ein. Und ein Neurologe bewertete die Ausfälle durch die Kopfverletzungen mit 20 Prozent. Das ergibt aber zusammen keine Rente von 60, sondern bloß von 40 Prozent, weil die Symptome der Kopfverletzung angeblich in den Gelenksbeschwerden aufgehen.

„Aber neurologoische und unfallchirurgische Bewegungen können sich nicht überschneiden“, sagt Z.

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