Caritas-Direktor: "Wir haben verlernt, einander zuzuhören“
Klaus Schwertner ist seit rund einem Jahr Direktor der Wiener Caritas. Ein Jahr, das unter anderem von Krieg und Teuerungen geprägt war. Im KURIER-Interview spricht er über die derzeitigen Herausforderungen.
KURIER: Wir befinden uns gerade in einer Wärmestube, einem beheizten Raum für Bedürftige. Wie wichtig ist es, dass es solche Institutionen gibt?
Klaus Schwertner: Sehr. In den letzten Jahren hat sich Wien zu einer vorbildlichen Stadt in Bezug auf Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe entwickelt. Darauf können wir stolz sein. Als Caritas helfen wir mit niederschwelligen Angeboten, etwa mit den 42 Wärmestuben, die wir gemeinsam mit den Pfarren der Erzdiözese Wien betreiben.
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Alleine bei diesem Projekt sind über 1.000 Freiwillige im Einsatz. Das zeigt, dass trotz aller Krisen sehr viel Solidarität in Österreich und in Wien vorhanden ist.
Warum hat sich Wien zu einer Vorzeigestadt entwickelt?
Es wurde vor Jahren die politische Entscheidung getroffen, dass im Winter jede und jeder, der einen warmen Schlafplatz braucht, diesen auch erhalten soll. Und man hat alles unternommen, damit das auch gewährleistet werden kann.
Was gehört noch verbessert?
Ich weiß, dass die Bundesregierung und die Länder in den letzten Monaten etliche Hilfen auf den Weg gebracht haben. Gleichzeitig fehlt mir ein visionärer Zugang in der Politik, der über tagespolitische Themen hinausgeht. Sprich: Wie können wir etwa Rahmenbedingungen schaffen, durch die Menschen gar nicht erst die eigene Wohnung verlieren?
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Pflege, Armut, Bildung oder Klima – wir benötigen handfeste Lösungen. Was vorherrscht, ist aber vielfach Populismus. Parteien der Extreme schaffen und verstärken damit vor allem Ängste, tragen aber sehr wenig zu Lösungen bei.
Ich vermisse einen klaren und starken Aufschrei der Parteien der politischen Mitte
Wir sind mitten in einem Wahljahr. Wie wirkt sich das gesellschaftspolitisch auf das Land aus?
Eine große Herausforderung ist die wachsende Spaltung in der Gesellschaft. Ich habe seit dem Jahreswechsel mit Erschrecken festgestellt, dass plötzlich Worte wie „Fahndungslisten“ oder Deportationsfantasien laut ausgesprochen werden – und das von führenden Oppositionspolitikern, die im österreichischen Parlament sitzen. Und ich vermisse einen klaren und starken Aufschrei der Parteien der politischen Mitte. Beides finde ich eine schlechte Entwicklung für unser Land.
Was erwarten Sie sich denn von den Parteien der Mitte?
Ich sehe es als absolutes Versäumnis, dass sie es nicht schaffen, in einer Sprache zu kommunizieren, die Menschen abholt, die ihnen auch Ängste nimmt. Populisten betreiben das Geschäft der Angstmache. Es wäre die Aufgabe einer politischen Mitte, diese Ängste zu nehmen und politische Antworten auf drängende Fragen zu buchstabieren. Wie auch die neue Präsidentin der Caritas Österreich, Nora Tödtling-Musenbichler, gesagt hat: „Wir brauchen strukturelle und nachhaltige Armutsbekämpfung.“ Darum geht’s.
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Den Aufschrei gibt es von der Bevölkerung – etwa am Freitag bei der Demonstration vor dem Parlament gegen Rechtsextremismus.
Es ist wirklich ermutigend und ein starkes Zeichen, dass so viele Menschen auf die Straße gehen, um aufzuzeigen, wo rote Linien überschritten werden. Gleichzeitig wird es wichtig sein, dass diese Zeichen nicht nur auf der Straße, sondern auch im Parlament gesetzt werden und unsere liberale Demokratie gegen autoritäres Gedankengut verteidigt wird. Ich glaube, wir haben auch ein Stück weit verlernt, einander zuzuhören. Das sehen wir auch rund um das Thema Einsamkeit. Hier haben wir es mit einer versteckten Not zu tun, die mitunter dazu führt, dass sich Menschen vom demokratischen Prozess zurückziehen oder sich populistischen Parteien zuwenden, weil sie sich im Stich gelassen fühlen.
Wie schaffen Sie es, offen zu bleiben, wenn Sie auf Menschen mit konträrer Meinung treffen?
Ich habe meine Strategie verändert. Wenn mir während der Flüchtlingskrise 2015 und in den folgenden Jahren Menschen sehr arge Sachen geschrieben haben, habe ich versucht, mit Argumenten dagegenzuhalten. Doch das allein ist nicht genug. Ich stelle auch Fragen. Menschen, die mich zuerst noch wüst beschimpft hatten, haben auf die Frage, woher diese Empörung und Ängste kommen und ob sie sich vielleicht selbst in einer schwierigen Situation befinden, oft geschrieben, dass genau das der Fall ist. Dass sie das Gefühl haben, es würde nur den anderen geholfen und nicht ihnen. Ich habe einige dieser Menschen an unsere Sozialberatungsstellen vermittelt. Das hat oft schon sehr viel verändert.
Im März 2013 wurde Klaus Schwertner Geschäftsführer und mit Februar 2023 Direktor der Caritas der Erzdiözese Wien. Bereits seit 2008 war er in der Caritas aktiv – anfangs als Pressesprecher
2010 initiierte er die Initiative "Gegen-Unrecht: Kinder gehören nicht ins Gefängnis“ von Caritas, Diakonie, SOS-Kinderdorf und Amnesty International, die von über 75 Organisationen und mehr als 116.000 Menschen unterstützt wurde
Auf der Plattform fuereinand.at kann man sich informieren, wo gerade Hilfe gebraucht wird, wenn man sich selbst engagieren will
Die Caritas ist nicht nur in Österreich aktiv, sondern auch weltweit. Wie erklären Sie das Menschen, die sich fragen, warum dort geholfen wird und nicht bei uns?
Wir leben in einer globalisierten Welt und gerade der Krieg in der Ukraine passiert mitten in Europa. Es ist wichtig, dass wir über den Tellerrand schauen und in unserer Nachbarschaft Augen und Ohren offen halten. Es kann uns nur gut gehen, wenn es auch unseren Nachbarn gut geht. Wir brauchen so etwas wie eine Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins und der Solidarität. Die großen Krisen werden wir nur gemeinsam lösen können.
Wie schaffen Sie es, trotz Krisen optimistisch zu bleiben?
Ich habe das große Glück, dass ich bei der Caritas arbeite und viele positive Entwicklungen sehe. 40.000 Freiwillige haben sich bei „füreinand“, unserer Plattform für Mitmenschlichkeit, angemeldet, weil sie laufend darüber informiert werden wollen, wo gerade welche Hilfe gebraucht wird. Gegen die eigene Ohnmacht, die man in einer Zeit der multiplen Krisen spürt, ist es am wirksamsten, selbst aktiv zu werden. Ich begegne ganz vielen Menschen, die sich nach Kräften dafür einsetzen, dass dieses Land jeden Tag ein Stück menschlicher, ein Stück gerechter, ein Stück heller wird. Und genau das gilt es zu stärken.
75.000 Menschen in Österreich fühlen sich mehr als 50 Prozent der Zeit einsam. Was macht das mit einer Gesellschaft?
Dieses Thema ist in Österreich noch nicht auf der politischen Agenda angekommen. In Deutschland wurde es im Regierungsübereinkommen verankert. Das würde ich mir von einer zukünftigen Bundesregierung wünschen – und auch einen Regierungsverantwortlichen gegen Einsamkeit, der sich mit dem Thema umfassend beschäftigt. Wenn man sich anschaut, zu welchen schweren Erkrankungen Einsamkeit führen kann, nämlich zu Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlaganfällen, ist das ein ganz wichtiges Präventionsthema, das entsprechende Mittel braucht.
Ich begegne ganz vielen Menschen, die sich nach Kräften dafür einsetzen, dass dieses Land jeden Tag menschlicher wird
Hat die aktuelle Bundesregierung genug getan?
Mir ist wirklich wichtig, zu sagen, dass die aktuelle Bundesregierung teilweise unter dem Wert geschlagen wird und ich auch das Gefühl habe, dass Populisten so tun, als wäre nichts passiert. Und das stimmt einfach nicht. Es ist mit der Valorisierung vieler Sozialleistungen, mit der Abschaffung der kalten Progression, mit dem Teuerungsausgleich gerade für armutsbetroffene Familien viel getan worden. Trotzdem habe ich in Gesprächen mit verantwortlichen Politikerinnen und Politikern oft das Gefühl, als wollten sie das Thema Armut nicht gerne sehen. Als nehmen sie nicht mal wahr, dass Armut auch ein Stück Realität in Österreich ist. Wenn man auf Armut hinweist, bedeutet das nicht, dass man das ganze Land schlechtredet. Hier gibt es viel Handlungsbedarf.
Bundeskanzler Nehammer hat am Freitag seinen Österreichplan in einer Rede präsentiert. Was halten Sie davon?
Wir werden uns das im Detail ansehen müssen. Wenn hier auch Ideen gewälzt werden, die Armutsbetroffene ärmer und die Kluft zwischen arm und reich größer machen könnten, dann bereitet das Sorge. Nach vier Jahren globaler Krise kann die Lösung nicht sein, den Druck auf Sozialhilfebezieher zu erhöhen. Vor allem auch, wenn wir wissen, dass sich darunter österreichweit mehr als 67.000 Kinder befinden, die in armutsbetroffenen Haushalten leben.
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