Obdachlos: Ein Jurist, der schon unten durch war

Ein Schlafsack und ein paar Flaschen liegen ausgebreitet vor einem Schaufenster
Warum ein 58-jähriger Akademiker mit Anzug, weißem Hemd und Krawatte die „Gruft“ aufsucht. Und wie ihm eine Psychotherapeutin der Caritas hilft.
Von Uwe Mauch

Eigentlich hatte er mit seinem Leben abgeschlossen. Er trug noch die weißen Hemden aus seiner Anwaltszeit, doch er nächtigte erst auf Parkbänken und dann in Männerheimen. Christian S. ist der lebende Beleg dafür, dass der Absturz in Obdachlosigkeit und Armut auch jene treffen kann, die zuvor gut verdient haben.

Der 58-Jährige legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Er drückt sich gewählt aus und bittet, seinen Familiennamen abzukürzen. Um die Gründe seiner eigenen Krise macht er einen eleganten Bogen, weil: „Man kennt mich noch, vor allem im ersten Bezirk.“

Zum Vier-Augen-Gespräch mit seiner Psychotherapeutin Nina Pöll in der „Gruft“ in Mariahilf erscheint Herr S. mit Anzug, weißem Hemd und einer Krawatte. Dankbar betont er: „Es ist ihr in der Tat gut gelungen, meine Lebensfreude wieder zu wecken.“

Diese Freude war ihm im ersten Pandemiesommer ganz abhandengekommen. Und damit das Selbstvertrauen: „Ich bin zwanzig Mal um die ‚Gruft‘ geschlichen und habe mich nicht getraut, um Hilfe zu bitten.“ Zu groß war die Scham eines Mannes, der sich noch kurz zuvor zur Elite der Metropole gezählt hatte.

➤ Mehr dazu: Obdachlos: Die Angst vorm Monatsende und der eiskalten Delogierung

Irgendwann waren die Nächte kälter als sein Stolz. Vor dem ersten Gespräch mit der Psychotherapeutin war er ebenfalls aufgeregt: „Ich ging vorher in eine Parfümerie, um mich dort einzuduften.“

Obdachlos: Ein Jurist, der schon unten durch war

Wieder eine Wohnung

Nina Pöll kommt seit nunmehr dreizehn Jahren jeden Mittwoch in die „Gruft“, um vor- und nachmittags ihre Klienten und Klientinnen zu betreuen.

Anders als in ihrer privaten Praxis muss sie die Menschen hier zuerst davon überzeugen, dass sich das Ausreden, das Aussprechen von Problemen, Hoffnungen und Wünschen auf längere Sicht bezahlt macht: „In der Praxis erkenne ich öfters das eine oder andere Muster. Am Mittwoch erlebe ich immer wieder Überraschungen.“

➤ Mehr dazu: Wenn es Nacht wird in Wien: Was Obdachlose fürchten

Jedes Mal schön sei es, wenn ihren Betreuten ein weiterer Schritt zurück in ein geordnetes Leben gelingt. So wie Christian S., der wieder seinen eigenen Wohnungsschlüssel besitzt. Zwar ist die neue Wohnung nicht einmal halb so groß wie die frühere, dennoch ist er froh, dass er hinter sich die Türe zusperren kann: „In einem Notquartier hast du ganz wenig Platz und keine Rückzugsmöglichkeit.“

Wieder sesshaft werden ist erst die halbe Miete, weiß Therapeutin Pöll: „Zu Hause kann einem die Decke auf den Kopf fallen.“ Daher gilt ihr Gesprächsangebot auch noch für ehemalige „Gruft“-Bewohner. Christian S. ist froh darüber. Er lächelt: „Sie ist Mitglied des Aufsichtsrats über mein Leben. Dank ihr habe ich gelernt, auch die einfachen Dinge zu genießen.“

Obdachlos: Ein Jurist, der schon unten durch war

Der etwas andere Genuss

In seinem früheren Leben war „Genuss immer mit Geld gekoppelt“. Heute freut er sich, wenn er mit der ÖBB-Sparschiene leistbar für ein paar Tage an die Adria fahren und sich dort den Freuden des irdischen Genusses hingeben kann.

Dazu gehören seit Längerem auch Schwimmen und Marathonlaufen. Der Mann, der einen Sommer lang auf der Straße schlief, hat gute Gründe dafür: „Wer obdachlos ist, verliert viel von der körperlichen Substanz.

Kommentare