Caritas-Direktorin: „Nicht ständig um Förderungen schreien“
Seit Juli leitet Nora Tödtling-Musenbichler die Caritas Steiermark als Direktorin.
Mit 1. Dezember wurde die 39-Jährige auch Stellervertreterin von Präsident Michael Landau in der Caritas Österreich.
KURIER: Wie stark merkt man bei der Caritas die aktuelle Situation, Stichwort Teuerung?
Nora Tödtling-Musenbichler: Die Teuerung ist bei uns bereits seit Anfang des Jahres spürbar. Wir hatten im ersten Halbjahr schon 30 Prozent Erstkontakte in den Beratungsstellen mehr, weil Menschen einfach nicht mehr weiterwissen. Bei der Lebensmittelausgabe haben wir fast doppelt so viele Ausgaben als im Vorjahr: Wir haben beinahe bis zu zwei Tonnen Lebensmittel, die wir täglich steiermarkweit ausgeben.
Wenn man in Lokale schaut, sieht man – sie sind voll. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Ich glaube, dass viele nach einer langen Durststrecke endlich wieder einmal das Leben genießen möchten. Wir sind ja von einer Krise in die nächste gekommen, da wünschen sich die Menschen Normalität. Andererseits haben sich viele auch etwas angespart in der Zeit von Corona. Und gleichzeitig sagt man vielleicht auch, das gönne ich mir jetzt noch, weil ich ja nicht weiß, wie es nächstes Jahr ausschauen wird. Aber bei unseren Klientinnen und Klienten sind wir davon weit weg – die überlegen sich, was sie sich leisten können und wo sie einkaufen sollen. Da sind wir auf einem ganz anderen Niveau.
Die Bundeshilfen reichen nicht?
Jede Hilfe ist gut und wichtig. Aber ich plädiere dafür, dass es nachhaltige Hilfe gibt, nämlich, dass Sozialleistungen generell angehoben werden, damit Menschen nicht nur überleben können, sondern leben. Es braucht kein Gießkannenprinzip, sondern ganz konkrete Hilfe: Wir wissen, wer Mindestpensionen und Arbeitslosengeld bekommt. Das heißt, die Daten sind da, sie müssen aber auch eingesetzt werden, damit das Geld zweckgerichtet dort ankommt und nicht, dass wir allen einen Klimabonus auszahlen. Auch denjenigen, die ihn nicht brauchen.
Armut
1,5 Millionen bzw. 17 Prozent der Österreicher gelten als armutsgefährdet. Weitere 1,4 Millionen Haushalte drohen trotz regelmäßigen Einkommens in die Armutsgefährdung abzurutschen
Berechnung
Gemäß Erhebung der EU („EU-SILC“) wird die Armutsgefährdung über einen Schwellenwert definiert: Er liegt bei 60 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens
1.371 Euro
Für Alleinlebende heißt das: Wer weniger als 1.371 Euro monatlich verdient (netto, 12 Mal im Jahr) ist armutsgefährdet (Zwei-Personen-Haushalte 2.056 Euro). Für jedes Kind werden 411,30 Euro dazu gerechnet
Ausgleichszulage
Viele Menschen haben nicht einmal diese 1.371 Euro: Der Richtsatz für die Ausgleichszulage beträgt derzeit 1.031 Euro – wer z. B. weniger Pension hat, bekommt den Rest vom Staat
Wer den Bonus nicht braucht, kann ihn spenden.
Das tun auch viele. Aber es kann nicht im Sinne des Staates sein, dass man flächendeckend Hilfen ausschüttet. Datenschutz darf nicht darüber stehen, dass wir Daten nicht hernehmen können, um jene zu unterstützen, die es ganz dringend brauchen.
Haben Sie als Caritas-Chefin Verständnis für Streiks für mehr Gehalt?
Ich verstehe Anliegen von Menschen, die sich dafür einsetzen, dass sie faire und gerechte Arbeitsbedingungen vorfinden und einen fairen und gerechten Lohn erhalten wollen. Es muss aber auch ein Maß sein, das für Arbeitgeber und Unternehmer vertretbar ist – die Teuerung betrifft uns alle. Die Streiks waren zum Teil ein Ausdruck von Verzweiflung, weil manches nicht in Ordnung war, auch von den Löhnen her. Aber wir müssen aufpassen, dass das nicht kippt.
Wie sehen Sie die Debatte um die Unterbringung von Asylwerbern?
Wir plädieren dafür, dass es keine Zelte in Österreich geben muss. Wir können nicht verstehen, dass vor Weihnachten bei dieser Kälte Menschen in Zelten untergebracht werden. Wir sind fest davon überzeugt, dass es ausreichend feste Quartiere in Österreich gibt und wir geflüchtete Menschen in Österreich menschenwürdig unterbringen können. Wie es Caritaspräsident Michael Landau bereits gesagt hat: Wir haben kein Flüchtlingskrise, wir haben eine Unterbringungskrise. Es wäre der große Auftrag an alle Gemeinden, sich solidarisch zu zeigen und nicht dagegen anzukämpfen. Wenn jeder einen kleinen Teil beiträgt, haben wir das innerhalb kürzester Zeit geschafft.
Warum wollen viele Gemeinden das aber nicht?
Ich glaube, das Unbekannte macht Angst. Da geht es gar nicht so sehr um Flüchtlinge, sondern dass Menschen mitreden wollen. Und das Zweite: Egal, ob wir eine Einrichtung für Wohnungslose aufmachen oder eine andere Hilfsaktion machen – da ist zuerst einmal Widerstand. Bei den Geflüchteten umso mehr: Überall wird vermittelt, das sind hauptsächlich junge Männer – das macht in erster Linie einmal Unbehagen.
Was läuft falsch?
Wir sollten in erster Linie einmal darauf schauen, wie können wir der Bevölkerung die Ängste nehmen, wie können wir sie mit einbeziehen? Was momentan passiert, ist: Es wird nicht mit der Bevölkerung kommuniziert, der Bund, die BBU, entscheiden oft über die Köpfe hinweg-. Sie müssen das teilweise auch, weil sich die Gemeinden nicht öffnen und sagen, wir bieten kleine Quartiere an. Unser Ziel sind Kleinquartiere in jeder Gemeinde, damit schnelle Integration möglich wird. Es ist natürlich schwieriger, ein 250-Betten-Quartier zu haben und dort die Menschen zu integrieren als in jedem Ort ein, zwei Wohnungen mit zehn Menschen. Großquartiere machen den Eindruck: Damit werden wir nicht fertig.
Ihr Weihnachtswunsch an die Bundespolitik?
Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam die Krisen überwinden können. Die Wirtschaft muss gut gefördert werden, aber auch jene müssen Unterstützung bekommen, die sie brauchen. Ich wünsche mir von uns als Gesellschaft, dass wir anpacken und Verantwortung übernehmen. Es kann auch nicht sein, dass die Bundesregierung alles auffängt. Wir können nicht ständig um Förderungen und Ausgleiche schreien, wir müssen einfach auch sehen: Ja, gut, wir haben
ein niedrigeres Wohlstandsniveau als vor einigen Jahren, aber wir sind doch noch in einem wirklich guten Land, in dem wir leben.
Kommentare