Bis zu ihrem 7. Lebensjahr habe Paul es geschafft, seine Neigungen unter dem Deckmantel der Intimpflege zu verstecken. Danach nahmen die Übergriffe ein anderes Ausmaß an. Die schlimmsten Misshandlungen passierten in einem Ferienhaus, in dem die Familie im Frühling und Sommer viel Zeit verbrachte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lea schon längst ihrer Mutter von den Übergriffen erzählt. „Der Papa ist komisch“, habe sie damals zu ihr gesagt. Die Mutter habe entgegnet, dass sein Verhalten normal wäre.
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Als Lea und ihre Schwester zwölf Jahre alt wurden, hörte Paul mit den Übergriffen auf. Er schenkte ihnen aber Reizwäsche und forderte sie auf, ihm diese vorzuführen. Er fotografierte die Mädchen. Die Fotos verwahrte er in einer Schublade neben seinem Nachttisch auf.
Mit zunehmendem Alter von Lea und ihrer Schwester wuchs der Frust des Mannes. Irgendwann schlug die Frustration in Aggression um. „Ich habe Angst vor ihm gehabt. Wir haben ständig damit rechnen müssen, von ihm bestraft zu werden, wenn wir nicht das gemacht haben, was er wollte“, sagt Lea.
Eltern verurteilt
Im erwachsenen Alter zeigten die Frauen ihre Eltern schließlich an. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen ein und klagte das Ehepaar an. Die Liste an Delikten war lang: Quälen beziehungsweise Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen, Vergewaltigung, schwerer sexueller Missbrauch von Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses, sexueller Missbrauch von Unmündigen. Die Mutter wurde zu acht Jahren verurteilt, der Stiefvater zu zehn Jahren.
Lea versucht seither, zurück ins Leben zu finden. Sie hat viele Freunde, die sie auf ihrem Weg begleiten und ihr den Rücken stärken. Nur in Beziehungen, da kämpft Lea. Damit, sich fallen zu lassen, und anderen zu vertrauen. „Ich bin ein Mensch, der Liebe braucht und verdient. Es braucht aber einfach noch Zeit, bis gewisse Dinge wieder möglich sind“, sagt die 30-Jährige.
Vernehmungszimmer
Damit – wie im Fall von Lea – überhaupt Ermittlungen geführt werden können, müssen Opfer einvernommen werden. Die Befragung von Kindern stellt für Ermittler oft eine Gratwanderung dar. Es hat oberste Priorität, dass die Kinder durch die Einvernahme nicht noch weiter traumatisiert werden.
Um eine Umgebung zu schaffen, in der sich die Opfer wohlfühlen, wurde in Wien ein kindergerechtes Vernehmungszimmer eingerichtet. Die Wände sind grün gestrichen, auf einem Tisch liegt ein Malbuch mit Stiften. Nur die Kamera auf einem Holzregal deutet darauf hin, dass es sich bei dem Raum um kein normales Kinderzimmer handelt. Auf einem Sessel sitzt Manuela Müllner. Die Präventionsbeamtin der Polizei hat in ihrem Leben bereits mehr als 1.000 Kinder befragt. Und deren Geschichten gehört.
Detailfragen tabu
„Die Einvernahme beginnt mit einer offenen Frage. Aus den meisten Opfern sprudeln die Worte dann nur so heraus“, sagt Müllner. Detailfragen zur Tat seien zu Beginn tabu. Vor allem bei langjährigem Missbrauch sei Vorsicht geboten. „Konfrontiert man die Kinder direkt mit der Tat, zerbrechen sie oft daran. Der Täter ist ja oft der Vater oder Onkel, den die Kinder lieb haben.“ Ganz wichtig sei auch, die Kinder dazwischen zu ermutigen. Die Wahrheit sagen sie nämlich in fast allen Fällen – nur bei der Trennung von Eltern werden sie oftmals für deren Zwecke manipuliert.
Wenn der eigene Sohn zum Täter wird
Pädophilie zählt zu den größten Tabus in unserer Gesellschaft – schließlich sind die Opfer unmündig und leiden oft ihr Leben lang an den Folgen der Übergriffe.
Wer pädophile Neigungen verspürt, wird das kaum jemandem anvertrauen, auch nicht den engsten Freunden oder der Familie. Und niemand möchte mit einem Pädophilen in Verbindung gebracht werden.
Und doch hat sich ein Elternpaar beim KURIER gemeldet, dessen Sohn wegen dieses Delikts im Maßnahmenvollzug sitzt. Sie appellieren: Es bräuchte Anlaufstellen, an die sich Betroffene wenden können, um Übergriffe im Vorfeld zu verhindern.
Die Mutter und der Vater möchten anonym bleiben. Sie sind Eltern dreier erwachsener Söhne, wähnten sich als glückliche Familie – bis vor zwei Jahren im Lieblingslokal im Urlaub das Handy läutete. „Einer unserer Söhne hat angerufen und erzählt, dass sein Bruder verhaftet wurde.“ Das ist der erste Schock. Noch war unklar, was vorgefallen war. Als sich herausstellt, dass dem Sohn pädophile Übergriffe vorgeworfen werden, war gewiss: „Unser altes Leben war für immer vorbei.“
Mit wem darüber sprechen?
Zurück zu Hause habe sie sich zuerst kaum vor die Tür getraut, erzählt die Mutter. Sie suchten Experten wie Psychologen und Psychiater auf, um sich über das Thema zu erkundigen, und führten auch lange Gespräche mit dem Sohn. „Da hat er uns gestanden, dass er eigentlich seit seinem achten Lebensjahr weiß, dass etwas mit ihm nicht stimmt“, erzählt der Vater. Nur habe er sich nie getraut, mit jemandem darüber zu sprechen.
Daher sagen sie: „Wenn er jemanden gehabt hätte, wo er hingehen hätte können, wäre es vielleicht anders gekommen.“ Man müsse das Thema in dieser Hinsicht enttabuisieren: Es brauche Anlaufstellen, Hotlines oder andere Beratungsformen, wo Betroffene Hilfe finden.
Die gibt es zwar schon, zum Beispiel bei der Männerberatung – nur sind die Möglichkeiten in der Öffentlichkeit noch wenig bekannt.
Männer, die sich von Kindern oder Jugendlichen angezogen fühlen, und die Missbrauchshandlungen verhindern wollen, können sich jedenfalls an die Männerberatung wenden.
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Dort gibt es das Projekt „Nicht Täter werden“: Es gehe darum, dass Männer ihr problematisches, auf Kinder gerichtetes Begehren erkennen und verstehen, erklärt Alexander Haydn von der Männerberatung. Denn in den Weiten des Internets drohe die Gefahr, dass es zu einer Vernetzung und Solidarisierung mit Leidensgenossen komme – das könne die Sehnsüchte noch steigern und zu einer Verschlimmerung der Situation führen. „Betroffene Männer können lernen, mit ihrem Begehren umzugehen und die Grenzen gegenüber Kindern und Jugendlichen zu wahren“, erklärt Haydn.
Anonyme Beratung oder Terminvereinbarung gibt es unter 01 / 6032828 oder unter ntw@maenner.at. Wer allgemeine Fragen zu diesem Thema hat, kann sich auch rund um die Uhr, kostenlos und anonym an die Männerinfo-Krisenberatung ( 0800 / 400 777) wenden.
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