Aggression im Zug: Wenn die Angst mitfährt
„Die Fahrscheine bitte“, sagt Zugbegleiter Wolfgang W. zu zwei Männern. Einer der Fahrgäste wirkt nervös, kramt in seiner Tasche. Als er noch einmal nach dem Ticket gefragt wird, zieht der Mann ein Messer aus seiner Tasche. „Wenn du nicht weggehst, mach ich dich auf wie einen Truthahn“, sagt er. Wolfgang W. bleibt ruhig, doch der Fall ist klar: Er wird die Polizei alarmieren.
Das Messer ist aus Gummi, die Szene gestellt. „Ich habe viel zu spät bemerkt, dass der Mann ein Messer dabei hat, weil ich zu sehr auf sein Gesicht konzentriert war. Ich wüsste nicht, wie ich im realen Leben reagiert hätte“, sagt W. Der Niederösterreicher ist einer von 1.378 ÖBB-Zugbegleitern in Österreich. Zum zweiten Mal nimmt er – gemeinsam mit zehn weiteren Kollegen – an dem Deeskalationstraining teil.
Rollenspiele
Durch diese Schulungen werden Mitarbeiter auf kritische Situationen vorbereitet. „Wir wollen den Teilnehmern zeigen, wie sie gefährliche Situationen bereits vor dem Konflikt erkennen und präventiv handeln“, sagt Martin Hollunder-Hollunder von der Sicherheitsfachakademie.
Hollunder-Hollunder war 34 Jahre lang bei der Polizei und hat Erfahrung mit dem Denkmuster gewaltbereiter Menschen sowie mit möglichen Auslösern von Angriffen. In Rollenspielen werden verschiedene Szenarien geübt: Attacken mit Messer, Pistole und Pfefferspray oder körperliche Übergriffe. „Verhaltet euch so, wie ihr es auch im echten Leben machen würdet“, lautet die Übungsanweisung des Trainers.
Wie sieht es nun in der Praxis aus? Vom ÖBB-Schulungsgebäude in der Laxenburger Straße sind es drei Minuten zu Fuß zum Wiener Hauptbahnhof.
Dort warten drei junge Zugbegleiter auf fünf Polizisten, um mit den Ticketkontrollen auf der meistbefahrenen Bahnstrecke Österreichs zu beginnen – der Stammstrecke zwischen Meidling und Floridsdorf. 700 Züge fahren pro Tag diese Strecke entlang. Dass die ÖBB-Mitarbeiter an diesem Tag Unterstützung von der Exekutive erhalten, ist nicht ungewöhnlich.
Sicherheitsgefühl
„Die ÖBB stehen in enger Kooperation mit der Exekutive. Es finden regelmäßig gemeinsame Patrouillengänge statt“, sagt Daniel Pinka, Pressesprecher der ÖBB. Während Zugbegleiter Alexsander C. einen jungen Mann nach dem Ticket fragt, warten zwei Polizisten hinter ihm.
„Wenn wir bei den Kontrollen dabei sind, passiert sehr selten ein Übergriff. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen wird durch unsere Anwesenheit gestärkt“, schildert einer der Polizisten. Der junge Mann, der kontrolliert wurde, verwickelt Alexsander C. in der Zwischenzeit in ein Gespräch. Er hat nicht nur kein Ticket, sondern dürfte eigentlich auch gar nicht in Wien sein. Der Grund: Er hat keine Aufenthaltsberechtigung. 135 Euro muss der Mann zahlen. Aggressiv verhält er sich dabei nicht. Die Ausnahme?
„Nein, würde ich nicht sagen. Aber was wir sehr oft erleben, sind Beleidigungen“, erzählt Alexsander C. während er dem Mann einen Erlagschein in die Hand drückt.
Personal
Aktuell gibt es bei den ÖBB 1.378 Zugbegleiter und SKT-Mitarbeiter (Service- und Kontrollteam). Für das Jahr 2023 werden in diesem Jobsegment 300 neue Angestellte gesucht
Deeskalation
Die Deeskalationstrainings wurden im Rahmen der Sicherheitsoffensive „Sicherheit leben“ im Jahr 2017 eingeführt und finden rund 80- bis 90-mal pro Jahr statt
Verletzungen
Im Jahr 2021 sind laut einer parlamentarischen Anfrage 87 Übergriffe gegen ÖBB-Bedienstete mit Verletzungsfolgen verzeichnet worden
Tendenz steigt leicht
Fragt man die Teilnehmer in der Schulung, erhält man andere Antworten. „Ein Mann hat mir einmal mit der Faust ins Gesicht geschlagen“, schildert einer der Teilnehmer. Vor allem die jüngeren Fahrgäste würden sich zunehmend aggressiver verhalten.
Wie viele gewalttätige Vorfälle es tatsächlich gibt, wird vonseiten der ÖBB nicht konkret genannt. Nur so viel: „Pro Jahr kann man von rund 1.000 Vorfällen sprechen, Tendenz leicht steigend“, sagt Pinka. Wenn man wissen will, wieso eine simple Frage nach dem Ticket Menschen dazu bringt, ein Messer zu zücken, fragt am besten beim Experten der Sicherheitsfachakademie nach.
Nerven liegen blank
„Zuerst hatten wir die Corona-Pandemie, dann den Krieg in der Ukraine, jetzt kommt die Teuerung dazu. Wenn Menschen sich nicht mal mehr eine Wohnung leisten können, dann liegen bei manchen die Nerven blank, wenn sie 135 Euro für ein fehlendes Ticket zahlen müssen“, sagt Hollunder-Hollunder.
Seit 2017 gibt es deshalb Deeskalationstrainings, um die Zugbegleiter für den Ernstfall zu schulen. Die Trainings finden pro Jahr rund 80 Mal statt – in allen Bundesländern. „Es ist wichtig, dass Zugbegleiter rasch das Gegenüber scannen, also die Kleidung, mögliche gefährliche Gegenstände, ob Alkohol oder Drogen im Spiel sind“, sagt Hollunder-Hollunder. Auch nach Fluchtwegen sollte sich die Mitarbeiter immer umsehen.
Polizei unterstützt
Und ab wann greift die Polizei ein?
„Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Natürlich ist die Exekutive zu informieren, wenn es zu tätlichen Übergriffen kommt. In Pendlerzügen zum Beispiel muss man abwiegen. Wenn ich die Polizei rufe, steht der Zug 30 Minuten. Da regeln das viele Zugbegleiter lieber ohne Polizei“, so der Experte.
Nach dem Training stellt sich nun die Frage: Hat es etwas gebracht? „Definitiv. Manches lernt man zwar im Alltag, wie genug Abstand zu halten. Aber mein Bewusstsein, gerade was Kommunikation betrifft, ist auf jeden Fall geschärft worden“, sagt Wolfgang W.
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