Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan gewann laut Wahlbehörde mit 52,1 Prozent der Stimmen die Stichwahl um die türkische Präsidentschaft. Freudensbekundungen und Hupkonzerte in Wien waren am späten Sonntagabend die Folge. Kein Wunder, sieht man sich das Wahlverhalten der in Österreich lebenden wahlberechtigten Türken an.
Fast 74 Prozent der Austro-Türken gaben Erdoğan nach vorläufigen Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu ihre Stimme. Damit schnitt Erdoğan in Österreich erneut deutlich besser ab als insgesamt. Der KURIER hat nachgefragt, warum es in Österreich so viele Erdoğan-Anhänger gibt.
Fünf Thesen dazu:
1. Heimatverbundene Auslandstürken
Erdoğan schnitt in Österreich im internationalen Vergleich besonders gut ab. Besser als in der Heimat war das Ergebnis für den Amtsinhaber aber auch in anderen europäischen Ländern mit großen türkischen Communitys – allen voran Deutschland, wo laut vorläufigen Ergebnissen rund 67,4 Prozent für Erdogan stimmten, Frankreich (66,6 Prozent), Niederlande (70,4 Prozent) und Belgien (74,9).
Es drängt sich also die Frage auf, ob Türken, die im Ausland leben, besonders patriotisch sind und sich einen starken Mann an der Staatsspitze wünschen. Pauschal sei das laut dem Politologen und Religionswissenschaftler Hüseyin Cicek nicht zu beantworten: "Die Türken im Ausland sind tatsächlich stark heimatverbunden. Gleichzeitig haben aber auch in Österreich gut integrierte Menschen die AKP und damit einen konservativ-islamischen Führer gewählt.
Er sieht illiberale Demokratien und Rechtspopulismus international auf dem Vormarsch und nennt als Beispiel die FPÖ und AfD. Die Türkei sei da keine Ausnahme. "Die Auslandstürken sind zwar in der Mitte der Gesellschaft angekommen, integriert und auf Augenhöhe. Das muss aber nicht zwangsläufig mit stärkerer Demokratisierung einhergehen."
Dem Soziologen Kenan Güngör zufolge spielt zudem ein starker Nationalismus eine Rolle. Dieser sei in der Türkei allgemein ausgeprägter als in vielen Ländern Europas: "Der sitzt sehr tief in der türkischen DNA und spiegelt sich natürlich auch im Wahlverhalten jener wider, die im Ausland leben."
2. Die Herkunft der Austro-Türken
Erdoğan dominierte – wie schon bei den vergangenen Wahlen – in Zentralanatolien. Die Opposition schnitt stark in den Provinzen entlang der Mittelmeerküste ab. Immer wieder heißt es deshalb, dass viele Austro-Türken aus eher ländlichen Gegenden stammen. Dieses Argument sieht Cicek skeptisch: "Viele der Wähler, die für jetzt Erdoğan stimmen, sind die Kinder von Menschen, die in den 1960er- oder 80er-Jahren eingewandert sind. Sie sind in der Mehrheitsgesellschaft angekommen."
Weltanschaulich und religionspolitisch sei das allerdings nicht der Fall. Gleichzeitig wäre das aber auch nicht bei allen Österreichern, etwa jenen, die die rechtsextreme Identitäre Bewegung unterstützen, so. "Die Auslandstürken treten heute vielerorts mit mehr Selbstvertrauen auf als früher. Das birgt Konfliktpotenzial."
Güngör geht einen Schritt weiter: "Bei den türkischen Gastarbeitern, die ab den 60ern nach Österreich kamen, handelt es sich tatsächlich zu einem großen Teil um ländliche Bevölkerung. Der religiöse Konservatismus dieser Gruppe wurde über Generation weitergegeben. Man sieht das auch in anderen Ländern."
In Großbritannien sei das anders, da dort die Migration später stattgefunden hätte und viele gebildete Türken dorthin ausgewandert seien. Tatsächlich lag im Vereinigten Königreich, wie auch in Schweden oder der Schweiz, die Opposition voran.
3. Wahlkampf im Ausland
Die größte Wahlkampfunterstützung für die AKP könnten die türkischen Medien gewesen sein. Diese sind Güngör zufolge zu 85 Prozent unter Regierungskontrolle. Dementsprechend handle es sich bei der Berichterstattung in vielen Fällen um Erdoğan-Propaganda. "Trotz der verheerenden Wirtschaftslage und des schlechten Erdbebenmanagements herrschte in der Türkei ein Narrativ vor, wonach die westlichen Mächte für die Wirtschaftskrise verantwortlich sind. Präsident Erdoğan inszenierte sich als schützender Patron."
Die Opposition komme so gut wie gar nicht zu Wort, die Situation komme einer Manipulation gleich, so der Soziologe weiter. Und dann wäre da noch die Tatsache, dass sich die AKP im Ausland eigentlich im Dauerwahlkampf befinde, wie Cicek erklärt. Es handle sich um eine aktive Diaspora-Politik. Auch dem Argument des Medieneinflusses kann er etwas abgewinnen: "Viele Türken informieren sich in türkischsprachigen Medien über das Weltgeschehen." Neben klassischen Medien dürfte hier auch Social Media eine wichtige Funktion zukommen.
4. Was sich Auslandstürken versprechen
Die Wahlbeteiligung erreichte in der zweiten Wahlrunde in Österreich mit 57,6 Prozent ein Rekordniveau. Rund 108.000 türkische Staatsbürger waren hierzulande wahlberechtigt. Gründe, warum so viele für den autoritären türkischen Präsidenten stimmten, gibt es wohl viele. Eine tragende Rolle dürfte aber der türkischen Religionsbehörde Diyanet zukommen.
Diese gilt als verlängerter Arm Erdoğans und der AKP. Diese entsendet unter anderem Imame. Über Moscheen oder bei Veranstaltungen werde dann Einfluss genommen. "Das ist glaubensbasierte Politik", meint dazu Politik- und Religionswissenschaftler Cicek.
"Die AKP hat eine eigene Abteilung für Auslandstürken", nennt Güngör einen weiteren Grund für das gute Abschneiden in Österreich. Er betont in dem Zusammenhang auch die Rolle der Botschaften, die vor Wahlen zumindest mobilisierend fungieren.
5. Das Demokratieverständnis
Erdoğan schaffte 52 Prozent gegenüber 48 Prozent, die sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu erhielt. Die Wahlbeteiligung lag bei mehr als 80 Prozent. In Österreich bei den erwähnten knapp 60 Prozent. Ein starkes Zeichen für die Demokratie könnte man meinen, warum also wird das Wahlverhalten der Austro-Türken kritisch gesehen?
Cicek hält es für nachvollziehbar, dass sich die österreichische Mehrheitsgesellschaft Sorgen macht, wenn ein derart großer Anteil der hier lebenden Türken eine rechtspopulistische, islamisch-konservative Partei mit einem autoritären Oberhaupt unterstützt. "Tatsache ist, dass sich jetzt die FPÖ die Hände reibt, weil sie sagen kann, dass diese Leute, die schon so lange hier sind, nicht hierhergehören."
Erdoğan wiederum könne das für sich nutzen. Er schwöre die Auslandstürken ein, indem er ihnen einrede, sie seien in Ländern wie Österreich nicht willkommen.
Güngör spricht noch einen weiteren Aspekt an: "Ist es ethisch richtig oder wünschenswert, dass Menschen, die in dritter Generation in Österreich oder Deutschland leben, über Menschen in der Türkei entscheiden, ohne die Konsequenzen zu tragen? Mit diesen Stimmen werden die Rechte der Menschen in der Türkei eingeschränkt."
Es handle sich bei der aktuellen Wahl um keine demokratische nach europäischem Verständnis, sind sich die Experten einig. Laut Güngör wurde die Opposition kriminalisiert, eine Wahl wie diese wäre in der EU annulliert worden. "Dass viele gewählt haben, kann man positiv sehen. Man kann es aber auch so interpretieren, dass viele ein demokratisches Wahlprinzip genutzt haben, um ein antidemokratisches System zu unterstützen", so der Soziologe.
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