50 Jahre nach dem Militärputsch in Chile: Überleben, um davon zu erzählen
Militärfahrzeuge patrouillierten auf den Straßen, Telefone funktionierten nicht mehr. Arbeiter, Studenten, Künstler wurden verhaftet. Dann begann die Bombardierung des Präsidentenpalasts in Santiago. Es war der 11. September 1973, der Tag des Militärputsches durch General Augusto Pinochet in Chile. Der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende starb, so wie Tausende Chilenen, die während der Diktatur Pinochets eingesperrt, gefoltert, ermordet wurden.
Angesichts der tragischen Entwicklung formierte sich auch in Österreich eine Solidaritätsbewegung für politisch verfolgte Chilenen. Kanzler Bruno Kreisky ließ Visa ausstellen, rund 1.500 Flüchtlinge kamen ab 1973 ins Land.
"Ein bescheidener, kultivierter Mann"
Einer von ihnen ist Erick Zott. Er war Teil einer linken Studentenbewegung und hat Salvador Allende noch persönlich kennengelernt. „Er war ein freundlicher, bescheidener, kultivierter Mann“, erzählt er. Nach dem Putsch lebte Zott neun Monate im Untergrund, bis er und seine Lebensgefährtin in Santiago gefangen genommen wurden. „Wir haben versucht, uns darauf vorzubereiten. Aber auf so etwas kannst du nie vorbereitet sein“, sagt er. Vergewaltigung, Folter, brutale Verhöre in mehreren Lagern – mehr möchte er darüber nicht mehr erzählen.
Schließlich wurde Zott von einem Militärgericht zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Dank eines Visums für politische Gefangene konnte er 1976 nach Österreich flüchten: Ein Land, über das er kaum etwas wusste, sollte seine neue Heimat werden. Er arbeitete für die UNO, eröffnete in Wien die Bar Floridita, zog seinen Sohn hier groß. Und doch lässt ihn Chile nicht los: „Ich werde bis an mein Ende versuchen, die Verbrechen, die geschehen sind, bekanntzumachen.“
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Mythos Macondo
Geht es um Chilenen in Österreich, fällt oft der Name Macondo: eine Flüchtlingssiedlung bei der Kaiserebersdorfer Kaserne in Simmering, in der viele Chilenen untergebracht waren. Auch Cristina Musa und Manuel Pinto – die beiden leben heute noch hier.
Macondo ist eigentlich ein fiktiver Ort in Kolumbien in Gabriel García Márquez’ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“: ein Mikrokosmos, in dem sich Lebenswege kreuzen, in dem Menschen lieben, lernen, streiten, sterben.
„Auch hier war das Zusammenleben nicht immer einfach. Daher haben wir Chilenen der Siedlung diesen Namen gegeben“, sagt Cristina Musa. Schließlich landeten auch Flüchtlinge aus der damaligen Tschechoslowakei oder Ungarn hier. Menschen, die vor kommunistischen Regimen geflohen waren, trafen also auf Chilenen, die ihrer sozialistischen Regierung nachtrauerten – das barg freilich auch Konfliktpotenzial.
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Und doch sei das Leben hier gut gewesen, erzählen Musa und Pinto bei einem Spaziergang zwischen der Kaserne und Bungalows aus den 1970ern. Es gibt schöne Erinnerungen an den Wald, den es hier gab. „Die Kinder haben dort gespielt und alle Erwachsenen waren einfach Tía und Tío, also Tante und Onkel.“ Und es gibt Anekdoten, etwa über die „Plaza de Amor“, den Platz der Liebe, auf dem ein paar Chilenen einst eine schöne Tschechin anhimmelten.
Drei Jahre im Gefängnis
1973, als es zum Putsch kam, war Musa hochschwanger. Sie flüchtete zuerst nach Kuba, saß dann aber drei Jahre in Chile im Gefängnis. Eine Zeit, die körperliche und seelische Narben hinterließ. Aber in Österreich seien sie gut aufgenommen worden, betonen beide. Pinto arbeitete als Elektromonteur, Musa als Buchhalterin in der Volkshochschule Meidling.
Leider habe sich Macondo verändert, sagen sie, früher sei es sauberer und friedlicher gewesen. Den Wald gibt es nicht mehr, hier steht ein Abschiebezentrum, am Wegesrand liegen ausrangierte Möbel. Doch die chilenische Community trifft sich immer noch hier, um gemeinsam zu feiern, etwa den Nationalfeiertag am 18. September.
Die zweite Generation
Chile ist also auch in Wien noch präsent – auch für Kinder der zweiten Generation wie Gabriela Jorquera. Auch ihr Vater saß unter Pinochet im Gefängnis, die Eltern flüchteten nach Österreich, 1983 kam sie hier zur Welt.
Es war ein Aufwachsen in zwei Welten: „Mein Papa hat beim Lesen des KURIER und mit Songs von STS Deutsch gelernt“, erzählt sie und lacht. Alles Geld wurde für Reisen nach Chile gespart, im Alter von sechs Jahren sah sie zum ersten Mal das Land ihrer Eltern. „Aufgrund meiner Wurzeln interessiere ich mich sehr für Politik“, erzählt Jorquera, die sich für die Rechte von Frauen und Minderheiten einsetzt. Mittlerweile hat sie selbst Kinder: „Und ich will, dass auch sie ihre chilenischen Wurzeln kennen.“
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Ein Blick zurück: Was Chile und Österreich verbindet
Die österreichische Nachkriegszeit war vorüber, Tristesse wich Optimismus und Aufbruchsstimmung, der Wohlstand wuchs. Das brachte auch Fragen nach sozialer Gerechtigkeit mit sich, und immer mehr (vor allem) junge Menschen kritisierten die herrschenden Machtverhältnisse. „Es war das lange Jahr 1968“, erklärt Berthold Molden, Historiker im Förderverein des Lateinamerika-Instituts.
Revolutionäre wie Kubas Fidel Castro faszinierten, ebenso Salvador Allende, dessen sozialistische Regierung auf demokratischem Weg an die Macht kam: Zeigte sich in Lateinamerika eine neue, gerechtere Möglichkeit, eine Gesellschaft zu organisieren?
„Grundsätzlich stand man dem Kommunismus in Österreich skeptisch gegenüber. Die Allende-Regierung aber wurde als moderner, linker Weg in die Zukunft gesehen und war daher für viele Junge attraktiv“, erklärt Molden. Mit dem Projekt „Cybersyn“ gab es etwa bereits 1971 die Idee, die Wirtschaft des Landes mithilfe von Computern zu steuern. „Aber im Grunde hatte Allende auch ein ähnliches Programm wie das Rote Wien: Wohnen, Gesundheit und Bildung“, so Molden.
Eine der zentralen Figuren in Österreich war Bruno Kreisky, der sich nach dem Putsch für das Ausstellen der Visa einsetzte: „Er war überzeugter Antifaschist, Antinazi, und er hat selbst im Exil gelebt.“
Und wie ist Allendes Bilanz in der Rückschau zu bewerten? Freilich habe sich das Leben nicht in allen Bereichen so verbessert, wie geplant, sagt Molden. „Das lag aber auch am Embargo der USA und an subversiven rechten Gruppierungen, die Allendes Bemühungen konterkariert haben.“ Der Zugang zu Bildung habe sich verbessert, Gewerkschaften wurden aufgewertet. „Doch Pinochet machte alles wieder rückgängig.“
Allende, der Putsch, die Diktatur: Aufgrund ihrer Tragweite sind sie in der Diaspora heute noch lebendig. „Auch in der zweiten und dritten Generation sind die Themen extrem präsent“, sagt Molden.
Themenschwerpunkt: Das Lateinamerika-Institut (LAI) bietet mit der Botschaft von Chile rund um den 11. September einige Veranstaltungen.
13. September: Filmvorführung „Chile '76“ im Filmcasino, 20 Uhr. Im Anschluss Diskussion mit Diaspora-Vertretern Erick Zott und Alicia Peña.
26. September: Vortrag und Diskussion „50 Jahre nach dem Staatsstreich in Chile – Demokratie und Menschenrechte“, 18 Uhr,
Frida Kahlo Saal, LAI, Türkenstraße 25. Moderation: Berthold Molden. Kostenlose Teilnahme, Anmeldung unter: office@lai.at
Weitere Infos: vhs.at/de/e/lai/50-jahre-putsch-chile
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