Ratzenböck: „Es ist Zeit, zum Frieden zurückzukehren“
Josef Ratzenböck feiert am Montag seinen 95. Geburtstag. Er geht mit einem Gehgestell (Rollator ohne Räder), seine Beweglichkeit ist eingeschränkt. Der ÖVP-Politiker war von 1973 bis 1977 Landesrat für Kultur und von 1977 bis 1995 Landeshauptmann von Oberösterreich. Seit 1954 ist der in Neukirchen am Wald (Bez. Grieskirchen) Geborene mit Anneliese verheiratet, die beiden feiern heuer ihr 70-jähriges Hochzeitsjubiläum. Anneliese Ratzenböck, die die Goldhaubengruppen zu neuen Höhen geführt hat, hat am 18. Juli ihren 90. Geburtstag.
KURIER: Wie geht es Ihnen?
Josef Ratzenböck: Dass ich 95 Jahre alt werde, habe ich nicht in meinen kühnsten Träumen erwartet. Meine Leute, meine engeren Verwandten, sind alle mit 76 Jahren verstorben.
Anneliese Ratzenböck: Der Großvater, der Urgroßvater, der Onkel Martin, alle mit 76. Da hat er sich eingebildet, dass das auch seine Deadline ist (lacht).
Es ist vermutlich Ihre ausgeglichene Lebensweise, die Sie so alt hat werden lassen.
Josef Ratzenböck: Eine ausgeglichene Lebensweise habe ich nie gehabt.
Anneliese Ratzenböck: Du hast nicht getrunken und nicht geraucht.
Sie sind bald ins Bett gegangen und um fünf Uhr früh aufgestanden.
Josef Ratzenböck: Das war ich vom Stall gehen gewohnt. Hie und da war es um vier Uhr früh, die Regel war um fünf Uhr. Wenn ich um sechs Uhr aufgestanden bin, habe ich schon ein schlechtes Gewissen gehabt. Ich war immer ein leidenschaftlicher Bauer. Ich habe auch gedacht, dass ich mein Leben als Bauer beenden werde.
Politiker sind Sie geworden.
Anneliese Ratzenböck: Ein Zufall.
Warum wird man so alt?
Josef Ratzenböck: Damit man möglichst viele Erlebnisse ins Jenseits mitnehmen kann. Ich bringe mein Leben ein, ich habe es immer gelebt.
Was waren Ihre schönsten Erlebnisse?
Josef Ratzenböck: Meine Hochzeit.
Anneliese Ratzenböck: Da schau her. Wir sind nun 70 Jahre verheiratet und 65 Jahre in der Wohnung in Linz.
Die Wohnung ist ziemlich unverändert, außer dass Sie sie einmal vergrößert haben.
Anneliese Ratzenböck: Ich habe schon bauliche Veränderungen vorgenommen. Als beide Kinder ausgezogen sind, wollte ich eine Wand niederreißen. Da hat er Nein gesagt, Wände reißen wir keine ein, wir bauen nichts mehr um. Dann ist Weihnachten gekommen, er hat die Kinder gefragt, was er mir schenken soll. Sie haben gesagt, die Mutti hat nur den einen Wunsch, die Wand niederzureißen. Zu Weihnachten habe ich einen Brief bekommen mit der Erlaubnis zum ständigen Auf- und Umbau dieser Wohnung. (lacht)
Was waren noch herausragende Erlebnisse? Der Wahlsieg 1985 mit der absoluten Mehrheit von 52,1 Prozent?
Das war eine riesengroße Freude für mich.
Gab es auch negative Erlebnisse?
Anneliese Ratzenböck: Wir haben keine schlimmen Erlebnisse. Beim dritten Antreten ist das Ergebnis ein bisschen nachgegangen (Landtagswahl 1991, ÖVP 45,2 Prozent), das war schon eine Enttäuschung, aber die hat man ja vorausgesehen. Ein Schock war das Enkelkind, das einen Herzfehler gehabt hat und in München hat operiert werden müssen. Letzten Endes ist es gut ausgegangen, er ist heute 40 Jahre alt und gesund.
Abgesehen vom Krieg in Ex-Jugoslawien hat in Europa seit 1945 Friede geherrscht. Seit zwei Jahren führt nun Russland Krieg gegen die Ukraine.Sie haben den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Wie sehen Sie die Lage?
Josef Ratzenböck: Der Friede ist sicher auch ein Verdienst der Generationen, die seither in Europa gelebt haben. Europa hat eine ungeheure Friedenssehnsucht, die eigentlich nie gestillt worden ist. Wir waren ständig die Quelle des Unfriedens. Es ist Zeit, dass wir zum Frieden zurückkehren.
Die Situation in der Ukraine ist schwierig.
In meiner Zeit waren die Situationen schwieriger. Es ist doch einigermaßen gelungen, Frieden zu halten.
Es war Kalter Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA, an der Grenze war der Eiserne Vorhang.
Es war viel schwieriger. Der Eiserne Vorhang hat abgebaut werden müssen.
Anneliese Ratzenböck: Der Abbau des Eisernen Vorhangs zählt zu seinen besonders schönen Erlebnissen.
Josef Ratzenböck: Dazu kam ein sehr persönliches Erlebnis. Wir haben im Böhmerwald sehr enge Verwandte, denn meine Großmutter Katharina Neubauer ist aus Tschechien, aus Kladen 5, gekommen. Es war für uns ein ungeheures Erlebnis, dass wir miteinander im gemeinsamen Europa leben durften. Mein Großvater Josef Ratzenböck und Katharina Neubauer haben sich bei einer Wallfahrt am Pöstlingberg getroffen und kennengelernt. Inzwischen gibt es den fünften Josef Ratzenböck, er ist mein Enkel und 38 Jahre jung.
Zeichnet sich bereits ein Josef Ratzenböck VI. ab?
Anneliese Ratzenböck: Leider noch nicht. Aber wir haben bereits drei Urenkel.
Peilen Sie nun den 100er an?
Josef Ratzenböck: In diesem Alter hat man keine Wünsche mehr. Man nimmt entgegen, was kommt. Du freust dich, wenn das Leben ohne große Mühsal andauert. Du bist neugierig, wie sich die Welt entwickelt. Aber du hast keine Sonderwünsche mehr. Denn eigentlich ist das alles durch die Länge des Lebens gleichgültig.
Schauen Sie sich jeden Tag die Nachrichten an?
Josef Ratzenböck: Ja, die Zeit im Bild schaue ich mir immer an.
Anneliese Ratzenböck: Er liest auch täglich die Zeitung. Er ermüdet zwar relativ rasch, kämpft sich aber zu den wichtigsten Informationen durch. Früher hat er auch fünf Stunden durchgelesen, und er hat sich auch alles gemerkt, was er gelesen hat. Das geht jetzt nicht mehr.
In diesem Alter ist man noch viel stärker als früher 65 mit dem Tod konfrontiert. Wie sehen Sie ihn?
Josef Ratzenböck: Er steht jeden Tag mit mir in der Früh auf. Ich sehe ihn gelassen. Ich hoffe, dass der Tod nicht viel anders ist als das Leben. Nur ohne Mühsal. Der Tod altert nicht, er ist ein Teil unseres Lebens. Wir sind über das Leben und sein Ende wahnsinnig gut informiert. Das Ende hört man nicht gern, aber wir wissen es. Jeden Tag wird es klarer, dass das Leben zu Ende geht. Ich bin neugierig, wie es nach dem Tod weitergeht.
Wie wird es weitergehen?
Nicht sehr viel anders als das bisherige Leben. Das kann man sich in etwa vorstellen.
Das jenseitige Leben ist also schöner als das diesseitige?
Ja, schon. Das erhofft man. Einer, der auf der Schwelle steht, schaut schon ein bisschen durch die Tür in das neue Leben.
Aber Sie werden noch einige Zeit leben, Sie sind in einer guten Verfassung.
Ich kann es nicht sagen. Das Leben ist jedenfalls hochinteressant, für mich ebenso wie für jemanden, der wesentlich jünger ist.
Das Leben hat es gut mit Ihnen gemeint?
Anneliese Ratzenböck: Ja, das stimmt sehr genau. Es ist ihm viel entgegengekommen, was er positiv angenommen hat.
Das ist vermutlich überhaupt der Schlüssel für ein gelungenes Leben, dass man Dinge, die einem passieren, annimmt und akzeptiert und ins Positive transformiert?
Anneliese Ratzenböck: Ja, es geht um das Annehmen der Gegebenheiten.
Sie wollten Bauer werden, geworden sind Sie Politiker und Landeshauptmann.
Josef Ratzenböck: Meine Leidenschaft war der Bauer. Am Feld mit zwei Pferden und dem Pflug zu arbeiten, das hätte mich voll befriedigt.
Was fasziniert Sie am Bauernsein?
Als Bauer bist du an der Quelle des Lebens. Wenn ich pflüge, wenn ich säe, wenn ich ernte, da bin ich immer dabei. Es ist eine Beschäftigung rund um das Jahr. Auf einem Feld haben wir immer 200 bis 300 Quadratmeter Klee stehen gelassen. Da waren immer die schönsten Schmetterlinge.
Wie geht es Ihnen, Frau Ratzenböck?
Anneliese Ratzenböck: Mir geht es gut, seit ich gelernt habe, Hilfe anzunehmen. Ich habe ihn vier Jahre allein gepflegt, bis zu einem Zusammenbruch, bei dem ich erfahren musste, dass ich nicht unzerstörbar bin, was ich immer geglaubt habe. Meine Schwester, die vergangenes Jahr verstorben ist, hatte Pflegerinnen. Gordana war dann frei, sie ist mit Freuden zu uns gekommen, eine zweite kam dazu. Beide kommen aus Rumänien und wechseln sich alle fünf Wochen ab.
Sind Sie mit Ihrer Partei, der ÖVP, zufrieden?
Josef Ratzenböck: Alles, was da geschieht, ist klarerweise mangelhaft. Wir sind ja auch selbst mangelhaft. Wir haben unsere Fehler, unsere Liebhabereien. Das eine pflegen wir, das andere bemühen wir uns zu erfüllen.
Mit der Landespolitik sind Sie zufrieden?
Josef Ratzenböck: Ja.
Anneliese Ratzenböck: Jeder hat seinen Stil und jeder macht es ein bisschen anders. Josef Pühringer war auf seiner Schiene, Thomas Stelzer macht es anders, aber er macht es gut. Er hat mit der Corona-Epidemie eine schlimme Zeit erwischt.
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