Mitarbeiter zu MAN-Aus in Steyr: "Bei vielen laufen Kredite"
Es ist Markttag in Steyr. Die Menschen schlendern am historischen Stadtplatz von Stand zu Stand. Viele tragen Einkaufssackerl mit Gemüse, Brot, Wurst und Käse in den Händen. Dass nur etwa einen Kilometer weiter beim Lkw-Hersteller MAN über 2.300 Existenzen auf dem Spiel stehen, ist nur selten Gesprächsstoff. Auch auf Nachfrage halten sich die meisten Marktbesucher kurz: „Das betrifft mich nicht“, „Mit dem habe ich mich nicht beschäftigt“. Und dann doch: „Traurige Geschichte“, „eine Frechheit“ und „sinnlos“, lauten die Antworten.
Mitten durch das Getümmel eilt der 51-jährige Christian. Er arbeitet bei der MAN zum vierten Mal als Leasingarbeiter. „Für mich könnte es jeden Tag aus sein. Der Schock sitzt tief“, sagt er. Wie er nun damit umgeht, weiß er noch nicht – bei einem ist er sich aber sicher: „Der Fisch fängt am Kopf zum Stinken an.“ Fehler des Managements von Tatron (Unternehmen, zu welchem MAN gehört und seinen Sitz in München hat, Anm.) sollen jetzt am Rücken der Mitarbeiter ausgebügelt werden. Aber jetzt muss Christian los, denn er muss in die zweite Schicht.
Szenenwechsel: Die Uhr zeigt 14.25 an – es ist Schichtwechsel in der MAN. Immer mehr Autos fahren am Mitarbeiterparkplatz vor. Während die einen durch das angrenzende Drehkreuz das Firmengelände betreten, dreht sich die andere Seite und Franz K. (55) marschiert mit einem Kollegen Richtung Auto. Für diesen Tag haben sie ihre Arbeit getan. „Die Stimmung im Werk ist nicht gerade rosig. Es wird viel diskutiert“, erzählt er.
Der 23-jährige Florian L. – der mit einem ganzen Kollegen-Schwarm aus dem Gelände kommt – findet härtere Worte: „Es ist beschissen. Wir haben so viele junge Leute, die sich zum Beispiel gerade einen Kredit für ihr Haus aufgenommen haben.“ Florian L. hat schon bei MAN gelernt – so wie viele, ist er dortgeblieben. Iris steckt, wie etwa 150 andere bei MAN, noch mittendrin in der Lehre: „Es herrscht eine gemischte Stimmung. Manche versuchen, es mit Schmäh zu überdecken. Arbeit hätten wir eigentlich genug“, schildert sie.
Betriebsratsvorsitzender Erich Schwarz bestätigt, dass die Auslastung gut sei. In den meisten Bereichen fahren sie derzeit mit zwei Schichten. „Wir haben auch in den vergangenen Jahren am Standort immer Gewinn geschrieben.“
2.300 Menschen arbeiten bei MAN in Steyr. Dazu kommen etwa 150 Lehrlinge. International möchte MAN bis zu 9.500 Stellen abbauen.
90 Lkw laufen in Steyr pro Tag vom Band, darunter Zwei-, Drei- und Fünfachser. Heuer wurden etwa 50 Elektro-Lkw produziert.
3.900 Arbeitslose hatten Steyr-Stadt und Steyr-Land Ende August.
Seine große Hoffnung liegt deshalb im Standortsicherungsvertrag. Dieser wurde erst am 4. Dezember 2019 unterzeichnet. Nur drei Monate später folgten über Medien erste Gerüchte, dass der Standort in Steyr geschlossen werden soll. „Ich habe daraufhin nachgefragt, bekam aber nie eine Antwort.“ Am 11. September hieß es dann plötzlich, dass der Standort wackle, mit Ende 2023 solle er nun voraussichtlich dichtgemacht werden. Die Produktion werde nach Polen und in die Türkei verlegt werden.
„Das ist eine Sauerei bis zum Gehtnichtmehr“, sagt Schwarz. Denn der Vertrag für das Werk läuft bis 2025 mit Option auf 2030. „Die Wirtschaftlichkeit des Standorts ist gegeben. Nur weil der Konzern ein Problem hat, heißt es nicht, dass die Verträge so einfach kündbar sind.“ Für ihn heiße es deshalb eines: kämpfen. Es sei noch nichts verloren.
„Würfel nicht gefallen“
Auch Bürgermeister Gerald Hackl ist voller Hoffnung: „Es ist eine Horrorvision. Aber soweit sind wir ja nicht. Dazwischen liegen viele Verhandlungen.“ Oberösterreichs Wirtschaftskammerpräsidentin Doris Hummer stellt klar: „Die Würfel sind noch nicht gefallen.“
Es sei eine herausfordernde Situation. Laut Hummer gebe es aber in OÖ einen Mangel an Fachkräften. Die qualifizierten Mitarbeiter würden neue Arbeit finden. Für Hubert Heindl, AMS-Geschäftsstellenleiter von Steyr, wäre die Schließung ein „Mega-GAU für die Region“. Dennoch: Das Schlechteste sei es in Depression zu verfallen. Nun müssten für alle Szenarien Pläne erarbeitet werden.
Wie oft sich das Drehkreuz für Franz, Florian und Iris noch drehen wird, wird sich noch zeigen.
Zuerst die Waffen, dann Räder und Autos
Die Stadt Steyr ist nicht nur, sondern war schon immer ein Ort, wo viel gearbeitet wurde: 1830 gründete Leopold Werndl einen Betrieb, in dem er mit 450 Arbeitern Gewehrbestandteile erzeugte. Dem Sohn, Josef Werndl, gelang schließlich der Schritt vom einfachen Unternehmer zum Großindustriellen: Er baute das Werk zu einer der größten Waffenfabriken der Welt aus. Mehr als 10.000 Arbeiter beschäftigte er in der Blütezeit des Unternehmens.
Ab 1894 wich die Rüstungsproduktion aber dem Bau von Fahrrädern und nach dem Ersten Weltkrieg der Fertigung von Automobilen. 1926 entstand daraus die Steyr-Werke AG, welche wiederum 1934 zur Steyr-Daimler-Puch AG fusionierte. Die Werke fertigten etwa den Klassiker Puch 500. Mit 1988 begann die Zerteilung des Unternehmens, wodurch etwa der SKF-Konzern, die Zahnradfabrik ZF, aber auch MAN in Steyr entstanden.
Bereits fünf Jahre davor, im Jahr 1982, siedelte sich das BMW-Motorenwerk in Steyr an und damit das aktuell größte Unternehmen der Stadt: Etwa 4.500 Arbeiter sind dort beschäftigt.
Laut Wirtschaftskammer OÖ beheimatet die Stadt (Stand Juni 2020) insgesamt 2.625 Unternehmen. Die Sparte Industrie ist mit 33 Unternehmen und 8.516 Mitarbeitern die größte.
Kommentare