Pflegenotstand entsteht durch wettbewerbsgetriebene Ökonomisierung

Pflegenotstand entsteht durch wettbewerbsgetriebene Ökonomisierung
Gastkommentar von Brigitte Aulenbacher, Vorständin des Instituts für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz.

An der Johannes Kepler Universität Linz befassen sich zahlreiche Forschungsprojekte seit langem mit Entwicklungen im Bereich von Sorge und Sorgearbeit – sei es in der Kinderbetreuung oder in der Betreuung und Pflege älterer Menschen. Sie zeigen, dass Sorgearbeit in Österreich großem Wandel unterliegt. 

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Forschungen zur öffentlichen Kinderbetreuung und stationären Altenbetreuung und -pflege zeigen, dass die Ursachen von Pflegenotstand und Fachkräftemangel in einer wettbewerbsgetriebenen Ökonomisierung des Sektors zu sehen sind. Diese Ökonomisierung steht in Konflikt zum Angebot bedarfsdeckender und -gerechter Sorgeleistungen und zu Ansprüchen an angemessene Arbeitsbedingungen, beides seit geraumer Zeit auch Anlass für Proteste, Streiks und Initiativen. 

Forschungen zur häuslichen Betreuung wiederum machen deutlich, dass das sozialpolitische Motto „häuslich vor ambulant vor stationär“ und das kulturell verankerte Ideal der familiären Betreuung in Österreich nach wie vor zentral, aber die Grundlagen längst brüchig sind.

Angesichts gestiegener Frauenerwerbstätigkeit und Arbeits- wie Wohnortmobilität hat der überkommene Geschlechter- und Generationenvertrag (weibliche Angehörige übernehmen zumeist die häusliche Betreuung und Pflege) zusehends ausgedient, während mobile Dienste nur unzureichend verfügbar und Community Nursing eher Programm als Realität ist. 

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Sorgelücken entstehen. Sie werden auf zwei Weisen gefüllt: Zum einen bilden sich neue Sorgemärkte heraus, auf denen verschiedene Dienstleister einer zahlungsfähigen Klientel ihre Angebote unterbreiten – in der Kinderbetreuung etwa Einrichtungen in privat(wirtschaftlich)er Trägerschaft, in der Altenbetreuung und -pflege etwa Agenturen, die Live-in-Betreuung (24-Stunden-Betreuung) vermitteln. 

senior woman with home caregiver

Zum anderen bilden sich seit einiger Zeit – als Reaktion auf die unzureichende Versorgungslage ebenso wie als Ausdruck neuer Lebensformen und -ansprüche unter Begriffen wie Caring Communities alternative Sorgeformen heraus. Sie erstrecken sich auf Gemeinden, Stadtteile oder Wohnprojekte und versuchen auf ganz unterschiedliche Weise, Sorge und Sorgearbeit stärker gemeinschaftlich zu organisieren.

Fragen des Sorgens und Wohnens neu zusammendenken

Die Entwicklungen, die hier lediglich beispielhaft angesprochen worden sind, vollziehen sich keineswegs ausschließlich in Österreich, sondern spielen in verschiedenen Ländern Europas eine Rolle. Sie werfen zum einen grundlegende Fragen nach der gesellschaftlichen Sorgeverantwortung auf: 

  • Welche Rolle können Markt, Staat, Gemeinschaft in der Bereitstellung von Sorgeleistungen spielen? 

  • Welche Bedeutung kommt professioneller Sorgearbeit, familiärer Betreuung und ehrenamtlichem Engagement zu? 

  • Wie muss Sorgearbeit organisiert werden, damit sie bedarfsgerecht und unter angemessenen Arbeitsbedingungen verrichtet werden kann? 

  • Welche räumlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen erfordert Sorgearbeit?

In der internationalen Forschung gibt es, was den zuletzt genannten Punkt angeht, erste Bestrebungen, Sorge und Sorgearbeit im Zusammenhang mit dem Thema Wohnen und Wohnumfeld zu erforschen und Entwicklungen in beiden Bereichen in Verbindung miteinander zu betrachten: So werden seit einiger Zeit einerseits neue Stadtteil- und Wohnprojekte unter Einschluss neuer Sorgeformen konzipiert. 

Beispiele hierfür sind Formen generationenübergreifenden Wohnens. Oder es werden von vornherein Betreuungseinrichtungen verschiedener Art und entsprechende Verkehrsinfrastrukturen in der Konzeption neuer Wohnformen mitbedacht. Andererseits unterliegen die Entwicklungen im Wohnungssektor – ähnlich denjenigen im Sorgesektor – Ökonomisierungstendenzen

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Der Zugang zu Wohnraum beeinflusst zugleich den Zugang zu angemessenen Sorgemöglichkeiten. Wenn Wohnen prekär und unleistbar wird, kann dies auch Sorgekrisen verschärfen.

Einladung zur Diskussion

Ein jüngeres Forschungsprojekt, das an der Johannes Kepler Universität Linz und der Wirtschaftsuniversität Wien durchgeführt wird, denkt unter dem Titel „The Contested Provisioning of Care and Housing“ (Die umstrittene Bereitstellung von Sorge und Wohnen) beide Themen zusammen. 

Es erforscht, wie in Österreich, aber auch in den Niederlanden und in Ungarn innovative Sorge- und Wohnformen erprobt werden. Ferner zielt es darauf, eine europaweite Landkarte der Bewegungen im Feld des Sorgens und des Wohnens zu zeichnen, wobei verschiedene Entwicklungen in ihren länderspezifischen Kontexten betrachtet und miteinander verglichen werden. 

Eine erste Bilanz wird auf der Konferenz „Transformative Change in the Contested Fields of Care and Housing in Europe“ (Transformativer Wandel in den umstrittenen Feldern Sorge und Wohnen in Europa) am 4.-6.12.2023 an der JKU Linz gezogen. Die Konferenz ist öffentlich und kostenlos und an der Diskussion Interessierte können sich hier anmelden: https://reglist24.com/careandhousing     

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