„Der schönste Ort der Welt“ - ein Leben mit Papa und Demenz
16 Arbeiten junger Künstlerinnen und Künstler der Kunstuniversität Linz vom Studiengang „Time-Based and Interactive Media Arts“ werden derzeit im Ars Electronica Center Linz gezeigt. Das AEC ist dabei für die Kunststudierenden nicht nur ein Ausstellungsraum, sondern viel mehr eine Weiterentwicklung des eigenen Werkes durch die inhaltliche Zusammenarbeit der beiden Linzer Institutionen.
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Gezeigt wird „zeitbasierte und interaktive Medienkunst, performative Werke, Filme und anders“, wie Studiengangsleiter Joachim Smetschka schildert, „aber immer steht der Mensch im Mittelpunkt“.
Wie etwa bei Sofia Jüngling-Badia. Die 26-jährige Linzerin hat „Den schönsten Ort der Welt“ entworfen, eine Hommage an ihren an Demenz erkrankten Vater. Er nennt sein Zuhause immer den schönsten Ort der Welt, und dieses Zuhause ist auch jenes seiner Tochter, der Künstlerin.
„Meine Eltern haben sich getrennt, als ich neun Jahre alt war“, erinnert sich Sofia Jüngling-Badia, „mit 20 habe ich mich bewusst entschieden, als pflegende Angehörige zu meinem Vater zu ziehen.“ Seither lebt sie mit ihm in einer inklusiven Wohngemeinschaft zusammen.
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In ihrer Installation greift sie auf die Bilder zurück, die ihr Vater in ihrer Kindheit gemacht hat, und zeigt diese – anachronistisch – über Leinwand und Diaprojektor.
„Er hat damit mein Leben dokumentiert. Ich greife sein Medium auf, und obwohl es Fotos fremder Menschen sind, kommen dem Betrachter die Situationen vertraut vor, aus den Situationen im eigenen Leben“, erklärt Jüngling-Badia, „so stelle ich mir Demenz auch vor.“
Wie sehr ihr das Thema nahe geht, ist bei der Präsentation des Kunstwerkes zu spüren. Der Grund für sie, zu ihrem Vater zu ziehen, dessen Krankheit sehr lange schon Teil ihres Lebens ist? "Er hätte mich sonst gar nicht mehr gekannt."
nexus / Ania Böhaker (AT)
Ania Böhaker zeigt mit nexus wie ein vorstrukturiertes Blickfeld das eigene Empfinden beeinflusst. nexus ist ein ca. 1,24 x 1,24 x 1,24 Meter großer weißer Würfel, der von massiven Rohrleitungen umschlungen ist. An den Seiten des Würfels befinden sich jeweils drei Rohre, die aus dem Würfel heraus- bzw. in ihn hineinragen – und alle sind miteinander verbunden. Besucher*innen werfen einen Blick in die Rohre und sind überrascht, wohin der eigene Blick geleitet wird. So enthüllt nexus eine neue Perspektive auf die direkte Umgebung und menschliches Miteinander.
Klang Kontakt / Emilia Vogt (DE)
Emilia Vogt hat mit Klang Kontakt eine Verbindung aus Soundinstallation und interaktiver Performance geschaffen. Die Künstlerin verwandelt die physische und emotionale Nähe anwesender Personen in ein harmonisches Klangerlebnis und schafft damit eine neue Ausdrucksform visueller Reize. Jede Berührung löst unterschiedliche Klänge aus, die sich in ihrer Intensität und Dauer unterscheiden – ganz so, wie sich die menschlichen Interaktionen entwickeln.
DREAM WAVE GROUP / Laurenz Vojka (AT)
Dream Wave Group ist ein Rollen-Videospiel (RPG Lite), das es ermöglicht, in die Traumwelten verschiedener Personen einzutauchen. Laurenz Vojka macht mit seinem Projekt die Gehirnwindungen fremder Menschen zum Erlebnis und lässt die Spieler*innen über einzelne Charaktere, ihre verrückten Wünsche und tiefen Ängste nachdenken: So findet man sich im Großstadtleben, beim Wellenreiten oder mitten im Frühjahrsputz wieder. Die fehlerhafte Logik des Traumreichs wird zum Möglichkeitsraum – der erkundet werden will.
Der schönste Ort der Welt / Sofia Jüngling-Badia (AT)
Orientierungslosigkeit im täglichen Leben, in den eigenen vier Wänden, in Gesprächen und der Zeit: Sofia Jüngling-Badia setzt sich auf persönlicher Ebene mit dem Krankheitsbild der Demenz auseinander.
Analoge Fotografien, die den Alltag einfangen, sind mit einer Erzählung über das Leben als Tochter eines demenzkranken Vaters verbunden, der sich zunehmend verändert. Die Narration wird regelmäßig durchbrochen von Sätzen, die Menschen mit Demenz in Dialogen aussprechen, um wieder Fuß zu fassen.
EMCP_One / Simon Lukas Haunschmid (AT)
The Electromechanical Cellphone (kurz EMCP) ist eine Designstudie, die sich mit dem stetigen technologischen Fortschritt befasst. Ausgangspunkt ist ein ausrangiertes Handy; ein Sinnbild der Entwicklungen der Telekommunikation Anfang der 2000er Jahre. In der Installation EMCP_One wird eine alte Kommode zum Träger ausgelagerter Funktionen des Telefons – und demonstriert mit analogen/semidigitalen Mitteln, welche Anwendungen in nur einem Gerät stecken. Das technologische Kernstück ist dabei die Platine des auseinandergebauten Handys.
Kreative Differenzen / Isabel Schulz (AT)
Isabel Schulz präsentiert eine Installation, die die Kreativität des Menschen einer bildgenerierenden KI gegenüberstellt. Sowohl die Künstlerin als auch eine speziell trainierte KI werden beauftragt, anhand zugeteilter Prompts Bilder zu entwickeln. Das Ergebnis: Divergierende Bildpaare trotz gleicher Ausgangslage. Die Arbeit regt zum Austausch über KI-generierte Kunst und ihre langfristigen Auswirkungen auf die Kulturszene an.
dBlech / Daniel Haas (AT)
Ein Audiosignal wird in elektrische Signale übersetzt und bringt vier großflächige Metallplatten zum Schwingen – und Klingen. Daniel Haas macht mit dBlech elektrische Schwingungen nutzbar und lässt eine Klangcharakteristik entstehen, die sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Materialien und Impulse speist. Neben der Audioebene provoziert dBlech auch optische Effekte: Wird ein Scheinwerfer auf die Oberflächen gerichtet, können die Wellen des eintreffenden Elektro-Signals in der Lichtreflexion beobachtet werden.
Aberration / Tolga Karaaslan (AT)
Ein universelles Alphabet, das es schafft, die Weltbevölkerung in all ihren Unterschiedlichkeiten und Konflikten zu einen – das ist die Idee der Protagonistin in einem Kurzfilmprojekt von Tolga Karaaslan. Es ist die Geschichte einer Grafikdesignerin in einem fiktiven autoritären Europa, die sich zwischen Protesten und Auflehnung wiederfindet. Mit dem neuen Alphabet sollen verhärtete Fronten in den Austausch treten und eine gemeinsame Kommunikationsform finden.
Auf Basis der Stimmung und Themen des entstehenden Films wurde Aberration (lat. Abirrung) konzipiert. Die Installation folgt den Gedanken der Protagonistin und vermittelt einen Ausdruck von Eigeninitiative, Umbruch und prozesshafter Umstrukturierung.
Alien Harmonies / Jakob Luckeneder (AT)
Außer-irdisch. Jakob Luckeneder hat eine interaktive Audio-Skulptur in Würfelform konzipiert, die mit Messingplatten bestückt ist. Klänge entstehen, sobald die Oberfläche berührt wird – statt harmonischen Tönen sind unverwechselbare artifizielle Klanglandschaften zu erwarten. Alien Harmonies erforscht die Grenzen und Potentiale kollektiver Kreativität, denn die Audio-Resultate, die beim gemeinsamen Ausprobieren entstehen, sind in dieser Form einmalig.
es mucho tiempo / Friederike Weber (DE) & Juliana Vargas Rodriguez (CO)
Die Videoinstallation es mucho tiempo ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von Friederike Weber und Juliana Vargas Rodriguez. Im Zentrum steht der Umgang mit Zeit – und der Wahrnehmung des Wartens. Die Basis des Werks sind Beobachtungen davon, wie Menschen Zeit überbrücken. Typische Bewegungen und Körperhaltungen werden in der Videoarbeit nachgeahmt – und auf Küchenrolle projiziert. Die übergeordnete Frage: Wie definieren wir einen Anfang und ein Ende?
Krisenherd / Lisa Studener (AT)
Krisenherd ist eine Sammlung digitaler Illustrationen, die anhand der App Artivive lebendig werden und durch Frame-by-Frame-Animationen Beweglichkeit erlangen. Thema sind die Herausforderungen und offenen Fragen der westlichen Welt – dargestellt in 12 Bildern, die jeweils eine Kurzgeschichte ausdrücken, die zum Schmunzeln oder Nachdenken anregt.
lust / Pat(ricia) Göckert (AT)
Die Rauminstallation lust konstruiert eine Welt, in der weibliche Lust, Verlangen und Selbstbefriedigung keine Tabus sind. Interviews mit weiblich sozialisierten Personen drücken persönliche Erfahrungen aus, die Probleme patriarchaler Strukturen aufdecken und den gesellschaftlichen Umgang mit weiblichen sexuellen Bedürfnissen zum Thema machen. Begleitende atmosphärische Bilder übersetzen das Erzählte ins Abstrakte.
Neinblicke / Benjamin Ramsmaier (AT)
Ein undurchdringbares Rätsel birgt Benjamin Ramsmaiers Neinblicke, eine interaktive Skulptur in Form eines Würfels. Hinter der hölzernen Fassade verbirgt sich ein Geheimnis, beschützt von einem „bösen und chaotischen“ Algorithmus, der bisher von niemandem durchschaut wurde. Was im Inneren des hölzernen Würfelkästchens steckt, bleibt unergründlich. Die Frage an die Besucher*innen lautet: Lassen sich die Berechnungen des Algorithmus überlisten?
pars / Ania Böhaker (AT)
Meinungsvielfalt, geteilte Wahrnehmungen und daraus resultierende Konflikte sind die Bezugsfelder der Videoinstallation pars. Auf ein hölzernes Wandbild wird ein Schachspiel projiziert, das abhängig vom Blickwinkel die Partie entweder aus der weißen oder der schwarzen Perspektive zeigt. Die Illusion der Eindeutigkeit der persönlichen Wahrnehmung wird demonstrativ dekonstruiert.
RAS Awakening / Janik Valler (DE)
RAS Awakening ist eine audiovisuelle Skulptur, die ein fiktives Zukunftswesen hervorbringt – eine künstlerische Vision davon, wie aus Mikrochips und Elektroschrott Leben entstehen könnte. In einer Choreografie aus Klang und Licht produziert die Skulptur Geräusche, die erst anhand der Daten in den elektronischen Abfallmaterialien entstehen. RAS Awakening ist Janik Vallers Konzept einer künstlichen Lebensform im Wechsel zwischen Wach- und Schlafstadium.
translucent reverie / Janik Valler (DE)
Die Lichtskulptur translucent reverie verwischt die Grenzen zwischen physischen und digitalen Realitäten, indem sie ein faszinierendes Spiel aus Licht, Farben und Formen entfaltet. Digitale Motive erwecken im Zusammenspiel mit physischen Materialen das Gefühl einer natürlichen Fluidität, die gerade den Zwischenraum erstrebenswert macht.
Jetzt kennt der Vater seine Tochter zumindest, weiß aber nicht, welcher Tag heute gerade ist. Diese Vergesslichkeit, die an Demenz erkrankte Menschen prägt, hat Sofia Jüngling-Badia auch akustisch umzusetzen versucht. Mit Geschichten, die man im von ihr gestalteten Wohnzimmer, gemütlich auf dem Sofa sitzend, hören kann. Und die von dementiell veränderten Menschen unvermittelt unterbrochen werden.
Ein wichtiger Grund für sie, dieses persönliche Thema öffentlich zu machen, war die Notwendigkeit, die Situation pflegender Angehöriger sichtbar zu machen: "Man kann alles verlieren, Freunde, Arbeit, Kontakte. Aber es muss nicht sein. Ich gebe mein Leben nicht auf." Die Kunst sei eines der Mittel dazu.
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Das Leben sei geprägt davon, dass nicht immer alle Bedürfnisse, weder die des Vaters noch die der Tochter, erfüllt werden. Die künstlerische Auseinandersetzung ist eine emotionale Aufarbeitung für die junge Kunststudentin, das Ergebnis stelle nun ihre Perspektive dar, „in der ich nicht untergehe und mein Vater seine Rolle hat“.
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